„Im Problem das Potenzial sehen“

„Islamismus richtet sich an Studenten, wie der Maoismus in den 70er-Jahren“„Es sind nicht die liberal-bürgerlichen Familien, wo die Milli Görüs wirkt“

Interview DANIEL BAX

taz: Der radikalislamistische Kalifatsstaat, über den Sie ein Buch geschrieben haben, ist verboten worden. Welche Wirkung wird dieses Verbot haben?

Werner Schiffauer: Der Kalifatsstaat ist in den letzten Jahren immer mehr zu einer nach außen abgedichteten, isolierten Sekte geworden. Auflösen werden sie sich wohl nicht. Das haben manche auch nach der Verurteilung von Metin Kaplan schon vermutet. Das Gegenteil ist passiert. Kaplan ist für sie ein Märtyrer, der für die gerechte Sache leidet. Auch das Verbot werden seine Anhänger in ihr Weltbild einbauen, in dem das Gute gegen das Böse, der Islam gegen den Westen kämpft. Sie werden also in den Untergrund gehen – oder sagen wir: sich nicht öffentlich treffen.

Dass Kaplan-Anhänger zu einer legalen, weniger extremistischen Organisation wie Milli Görüs wechseln, ist unwahrscheinlich?

Ja. Am Rand von Milli Görüs entstehen radikale Gruppen, da kann es Verbindungen geben. Aber direkt zu Milli Görüs sind jene gegangen, denen Kaplan Anfang der 90er zu extremistisch wurde. Die zweite Generation, die bei Kaplan blieb, hat Milli Görüs fundamental kritisiert: Wer sich an der Demokratie beteiligt, unterstützt den Satan. Deshalb ist es schwer vorstellbar, dass Kaplan-Leute zu Milli Görüs gehen.

Warum haben islamistische Bewegungen hier zu Lande überhaupt Zulauf?

Der radikale Islamismus ist vor allem für Studenten, für Akademiker attraktiv. Das ist so eine ähnliche Klientel wie bei den Maoisten in den 70er-Jahren – auch wenn es damals vor allem um saturierte Bürgerkinder ging. Es sind junge Leute, in dem Stadium zwischen Jugend und Erwachsensein, ein Alter, in dem viele empfänglich für den Kampf gegen das Unrecht sind. Viele Migranten der 2. Generation haben zudem die Erfahrung gemacht, von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert worden zu sein. Gerade Intellektuelle sind da empfindlicher als andere, die in ihren ethnischen Communitys bleiben. Denn Akademiker bewegen sich mehr in die Gesellschaft hinein, außerdem haben sie ja das Versprechen bekommen, aufsteigen zu dürfen. Wenn sie dann im Alltag mal blöd angemacht werden, empfinden sie das als besonders verletzend. Es ist kein Zufall, dass viele revolutionäre Bewegungen an den Unis entstanden sind. Sendero Luminoso hätte es ohne die Bauernkinder, die an die Unis gingen, nicht gegeben, ähnlich war es bei der PKK oder den Tamilen. Der Islamismus ist eine Form, radikal gegen die Mehrheitsgesellschaft zu opponieren.

Wenn es so kontraproduktiv ist – wem nützt es dann?

Na ja, Schily kann sich damit innenpolitisch gegen Stoiber und Beckstein profilieren. Juristisch ist dieses Verbot durchaus angemessen und vertretbar. Politisch klug und polizeitaktisch sinnvoll wird es damit aber auch nicht.

Hat sich der radikale Islamismus in den letzten 20 Jahren in Deutschland verändert – oder sind es immer gleiche biografische Hintergründe?

Da gibt es einen Bruch. In den 80ern waren es Migranten aus Anatolien, viele Autodidakten, die sich selbst das Lesen beibrachten und religiöse Trivilalliteratur rezipiert haben – also das Leben Mohammeds, der Kalifen etc. Ihr Gestus war deshalb kritisch gegen die Hodschas, gegen die Tradition, weil sie sich ja ihren eigenen Weg zum Wissen gebahnt hatten. Die Autodidakten sind typisch für solche Bewegungen. Man findet sie beim protestantischen Fundamentalismus des 18. Jahrhunderts ebenso wie bei den spanischen Anarchisten in den 30er-Jahren. Diese Migranten kamen aus der Türkei, in Deutschland fanden viele in Kaplan den Prediger, der ausdrückte, was sie glaubten. Das war die erste Generation, die sich später von Kaplans Extremismus abgewandt hat. Die zweite Generation bestand aus jungen Akademikern, die hier aufgewachsen sind. Kaplan bot dieser Gruppe die Chance, sich intellektuell den Koran anzueignen. Die waren härter, revolutionärer, die blieben bei Kaplans Sekte.

Hatte die Kaplan-Sekte Kontakt zum islamistischen Terrorismus?

Nicht zu al-Qaida. Aber zur Hamas und zur FIS in Algerien. Und es sind Freiwillige von Kaplan in die islamischen Kriege gezogen: z. B. nach Tschetschenien.

Ist es möglich, dass sie von sich aus terroristische Zellen bilden?

Eines der großen Rätsel ist das geplante Attentat 1998 in Ankara zum 75. Jahrestag der Republik auf das Atatürk-Denkmal, das auf die politische Elite der Türkei zielte. Wie verbindlich, wie präzise diese Pläne waren, weiß man nicht. Vielleicht war es nur Gerede. In dem Prozess gegen Kaplan wurde dieser Anklagepunkt jedenfalls fallen gelassen. Verwunderlich schien mir damals auch die Idee des Selbstmordattentats, das im Sunnitischen, in dem der Märtyrer und die Selbstgeißelung keine Tradition haben, sehr ungewöhnlich ist.

Aber was damals undenkbar war, erscheint seit dem 11. September in anderem Licht.

Ja, richtig. Anfangs habe ich die Kaplan-Leute – da stimmt die Analogie zu den Maoisten – für revolutionäre Maulhelden gehalten. Der Mord an dem Gegenkalifen hat dieses Bild natürlich verändert, ebenso der 11. September. Allerdings muss man beachten, dass die Täter vom 11. September ein ganz anderes Profil haben. Die Kaplan-Anhänger sind keine Schläfer – im Gegenteil. Sie kleiden sich wie Islamisten, das Bekenntnis zu ihrem Glauben war eine Art Outing, das sie der Welt präsentieren wollen. Sie wollen als Muslime in der Zivilgesellschaft anerkannt werden.

Sie meinen, dass der radikale Islamismus auch eine etwas bizarre Art der Integration in die Gesellschaft ist?

Ja. Integration ist oft kein geradliniger Prozess, sondern einer, der Opposition einschließt. Migranten werden ja selten geliebt. Geradlinige Integration bedeutet deshalb für viele Unterwerfung, Anpassung an eine Gesellschaft, die einen nicht will. Deshalb waren in den 70er- und 80er-Jahren die kommunistischen und sozialistischen Parteien für die Arbeitsmigranten so attraktiv – damit konnten sie gleichzeitig Opposition und Integration erleben. Aber dieses Modell ist mit dem Niedergang der klassischen Industrien, mit dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft passé. Heute findet dieses Modell von Opposition und Integration eher kulturalistisch, ethnisch oder religiös, statt.

Gibt es Beispiele, wie so ein kurvenreicher, nicht geradliniger Weg doch zur Integration führt?

Nehmen Sie Feridun Zaimoglu. Das ist vielleicht ein Beispiel, wie sich radikale Kulturkritik und ein antibürgerlicher Gestus abschleifen. Allerdings ist das in der Tat etwas anderes als antidemokratischer Islamismus.

die einen enden in der Talkshow, die anderen vor Gericht …

Ja. Ein besseres Beispiel ist Milli Görüs. In den 80ern wollten sie noch den Gottesstaat, Deutschland hielten sie für Feindesland. Dann kam ein langsamer Wandel – eine Annäherung an die deutschen Institutionen.

Günther Beckstein, Bayerns Innenminister, will Milli Görüs verbieten. Ist das gerechtfertigt?

Nein, das wäre eine Katastrophe. Milli Görüs ist ein heterogener Haufen. Da gibt es die wertkonservativen Migranten der ersten Generation. Dann gibt es die klassischen Kämpfer, die den Gottesstaat wollen. Und es gibt Erbakan, der sagt: Wir müssen uns auf diese Gesellschaft einlassen, wir müssen in Europa ankommen.

Ist das ernst gemeint?

Es gibt viele, die Erbakan für den Wolf im Schafspelz halten. Aber interessant scheint mir etwas anderes: Was passiert denn, wenn der Führer einer ehemals islamistischen Gruppe sagt: „Wir wollen hier ankommen.“? Das ist doch eine Chance für diese Gesellschaft, den Islamismus von unten her zu überwinden. Die Bewegung hat offenbar Erfahrungen gemacht, deshalb will sie in dieser Gesellschaft Fuß fassen und ihr Rechnung tragen. Wer Parallelgesellschaften überwinden will, muss diese Situation nutzen. Die deutsche Gesellschaft wäre dumm, wenn sie diese Chance ausschlagen würde.

Sie halten es für ausgeschlossen, dass Milli Görüs nur Camouflage betreibt?

Es geht um etwas anderes. Nehmen Sie die Frauen. Milli Görüs ist attraktiv für viele junge Frauen, weil sie feministische Kritik aufnimmt und islamisch wendet – etwa bei der Vermarktung von Sexualität. Man kann natürlich sagen: Das ist alles Show, dahinter verbirgt sich geschickt das Patriarchat. Aber: Akademikerinnen, die sich auf deshalb auf Milli Görüs einlassen, entwickeln dort eine eigene Stimme und werden die Männer später an die Kandare nehmen. Das sind Prozesse, auf die ich hoffe.

Also alles im Lot?

Nein. In den Gemeinden wird viel Unsinn gepredigt, es gibt antisemitische Töne. Das ist nicht zu leugnen.

Und Milli Görüs fühlt sich allen anderen überlegen …

Ja. Gut, was ist daran falsch? Die Zeugen Jehovas fühlen sich der Mehrheitsgesellschaft auch überlegen. Eine radikale religiöse Gruppe – und das ist Milli Görüs –, die sich der Mehrheit nicht überlegen fühlt, wäre ein Widerspruch in sich selbst. Das sind halt Leute, die glauben, die Wahrheit erkannt zu haben.

Was Milli Görüs oder den Islamismus insgesamt angeht, hegen Sie ja so eine Art historischen Optimismus. Beschleicht Sie nicht auch manchmal der Zweifel, dass da nicht eine Portion Wunschdenken mitspielt?

Ich komme von der Kaplan-Bewegung, da erscheint die Milli Görüs natürlich als relativ liberaler Haufen. Das andere ist aber auch, dass ich denke, dass wir hier in Deutschland eine spezifische Chance haben. Die Milli Görüs wird in Deutschland eine Diasporagemeinde bleiben, sie wird nicht den Staat übernehmen. Das bedeutet, dass man hier in solchen Aushandlungsprozessen eine Chance hat, dass sich hier ein Islam entwickelt, der neue Wege geht. Einer, der sich einrichtet in der nicht islamischen Gesellschaft, der sich einrichtet in der Demokratie und der Positionen entwickelt, die überzeugend sind und die sagen, es ist ein starker Vorzug, in der Demokratie zu leben. Und das zeichnet sich ab. Die Chance ist, dass Europa ein Ort wird, wo sich ein ernst zu nehmender islamischer Diskurs entwickelt. Ich schätze die Gefahren der Milli Görüs als gering ein.

Was sind denn die Gefahren?

Die Gefahren, die beschworen werden, sind der Aufbau einer Parallelgesellschaft, ein paramilitärischer Gestus, der sich einführt, Konservatismus in Bezug auf Frauen.

Sind das denn bloß Gespenster, die die deutsche Mehrheitsgesellschaft erfindet?

Nein, es gibt diese Positionen, keine Frage. Es ist nur die Frage, wo sie wirken. Die Milli Görüs ist in Stadtteilen aktiv, wo nicht das liberale Bürgertum wohnt. Das sind Stadtteile, wo es eine ausgegrenzte türkische Bevölkerung gibt, mit erheblichen Problemen: mit durch die Migrationsprozesse unglaublich verworfenen Familien, mit hoher Scheidungsrate, mit einem hohen Drogenproblem, mit einer hohen Kriminalitätsbelastung. Es sind nicht die liberalen, netten, bürgerlichen säkular-kemalistischen Familien, wo die Milli Görüs wirkt, sondern es sind diese Gruppen, die gesellschaftlich ausgegrenzt sind, für die die Milli Görüs attraktiv ist. Da kann man oft sehen, dass ein wertkonservatives Programm eher zur Integration in die Gesellschaft beiträgt.

Milli Görüs will ja auch Islamunterricht an den Schulen abhalten. Sind denn die Institutionen, die darüber befinden müssen, darauf vorbereitet? Ist die deutsche Gesellschaft überhaupt auf diese Herausforderung vorbereitet?

Ich denke, das wird alles nicht so heiß gegessen wie es gekocht wird. Der Religionsunterricht wird stattfinden. Nach der Konstruktion des deutschen Religionsunterrichts, die ich insgesamt nicht gut finde, ist er eine der grundsätzlichen Formen, wie hier zu Lande Anerkennung verliehen wird. Du gibst Religionsunterricht, also bist du eine der tragenden Institutionen in der Gesellschaft, die an einer staatlichen Schule Wertevermittlung betreiben darf. Dass da der Islamunterricht reinkommt, halte ich für eine grundsätzliche Geste der Anerkennung, genau so wichtig wie große, repräsentative Moscheen. Das ist einfach ein Signal der Gesellschaft. Das wird sehr schnell als normal gelten. Aber wenn man diesen Unterricht hier anbietet, muss man auch Ausbildungsstätten dafür schaffen. Eine islamische theologische Fakultät ist einfach notwendig.

Gibt es nach den Anschlägen vom 11. September einen Klimaumschwung im Umgang mit dem Islam – von einer gutwilligen Haltung, die bereit ist, der Milli Görüs den Islamunterricht an deutschen Schulen zu erlauben, hin zur Verbotsforderung eines Innenministers Beckstein in Bayern?

Es gibt natürlich Beckstein, Stoiber und die CSU. Es gibt aber auch die Leute, mit denen ich diskutiert habe, aus den Sicherheitsdiensten, die eher neugierig sind und versuchen, reflektiert damit umzugehen. Ich war einmal zur Sicherheitsrunde im Kanzleramt eingeladen. Mit denen konnte man reden. Die Frage war da: Wie gehen wir am sensibelsten mit den deutschen Muslimen um?

Wer war da dabei?

Da war der Chef vom Verfassungsschutz und der Chef vom BND, der Chef vom Kanzleramt. Da sind auch Sätze gefallen wie: Früher hätten sie einfach den Druck erhöht, ob es jetzt nicht sinnvoll wäre, den Druck zu reduzieren und Entwicklungen zuzulassen – was denn auch mein Plädoyer war. Was dann am Ende umgesetzt wird, ist natürlich eine andere Sache.

Es gibt ein großes Unbehagen am Stand der Integration, in allen politischen Lagern. Von der Adenauer-Stiftung gab es kürzlich eine Studie, die besagte, dass sich viele Türken viel integrierter fühlen als man landläufig meint. Wie beurteilen Sie den Stand der Integration?

Das ist sehr komplex. Ich habe kürzlich ein Interview mit 14-Jährigen geführt, eine Gesprächsrunde in Berlin-Reinickendorf mit Kindern aus bürgerlichen türkischen Haushalten, die integriert sind, nach allen soziodemografischen Maßstäben: Die Eltern sind Lehrer, Kaufleute. Und diese 14-Jährigen haben einen radikalen Differenzdiskurs geführt, so in etwa: Wir sind stolz, Ausländer zu sein – die Deutschen sind bescheuert. Das ist Pubertät, klar – 14-Jährige finden alle möglichen Leute bescheuert. Nur in diesem Fall war das eindeutig ethnisch kodiert. Das Risiko ist natürlich, dass sich eine solche Haltung verfestigt. Der Schock einer der Mütter dieser Kinder war, als sie heimkam und zu ihrem Sohn sagte, ich habe jetzt endlich die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, und der sagt nur: Bist du bescheuert? Ich bin Türke. Das andere ist, dass ich oft erlebt habe, wie Leute, die integriert waren, als Ärzte oder so, mit der Zeit bitter wurden, und als 30-Jährige sagen, sie haben jetzt die Schnauze voll: Immer noch. Und das Dritte ist: Es gibt gerade hier in Berlin große Gegenden, wo wir so etwas wie eine ethnische Ausgrenzung haben. Und auch da kann es durchaus sein, dass man ökonomisch extrem erfolgreich ist und in dieser Diasporagesellschaft gut leben kann.

Was die ökonomische Integration angeht …

Da scheint man in Deutschland relativ erfolgreich gewesen zu sein.

Trotz katastrophal hoher Arbeitslosigkeit, wie kürzlich in einer Berliner Studie erhoben wurde, und einer hohen Anzahl von Sozialhilfeempfängern?

Man muss sagen, dass das relativ neu ist, und dass sich im Zuge dessen erst jetzt Ghettos herausbilden, was in England und in Frankreich schon vor zwanzig Jahren gang und gäbe war. Das wird sehr stark von der weiteren ökonomischen Entwicklung abhängen, es gibt da keinen Determinismus. Und tatsächlich boomt da natürlich auch die Schattenökonomie.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Prozess der Ghettobildung zu stoppen oder zu verlangsamen?

Den einzigen richtigen Ansatz sehe ich darin, in Schulen und Ausbildung zu investieren, und die Segregation und die Ghettobildung auch in diesem Bereich zu stoppen – dort, wo liberale deutsche Eltern ihre Kinder von der Schule nehmen, weil ihnen deren Zukunft wichtiger ist als das Bekenntnis zur Integration. Das erfordert Geld, Investitionen und das Problem ernst zu nehmen. Das erfordert kleinere Klassen, letztendlich, das Interethnische als Potenzial zu sehen und nicht als Problem, und den Versuch einer attraktiven internationalen Schule. Ich weiß, das klingt in einer Zeit leerer Kassen schwierig. Aber da sehe ich den einzigen Steuerungspunkt.

Von Indonesien bis Marokko scheint man sich auf ein einheitliches Feindbild geeinigt zu haben: den Westen.

Ja, das ist wahr. Das hat eine innere Ursache – die Geschichte der kriegerischen Verbandelung, die im historischen Gedächtnis zweifellos da ist, aber auch die Niederlage des Islams in diesem Konflikt, und seit hundert Jahren die Abarbeitung am Westen. Seit hundert Jahren sind die Themen, in denen der Islam sich selbst formuliert, entweder Modernisierung des Islams, oder Islamisierung der Moderne, oder plurale Modernitäten oder plurale Interpretationen des Islam. Immer wieder heißt es: Der Westen und der Islam. Keine andere Religion hat sich so sehr an diese zentrale Stelle ihres Selbstbewusstseins gestellt, dieses Abarbeiten am Anderen. Und dazu kommt, dass die anderen das gar nicht ernst nehmen. Die islamischen Intellektuellen arbeiten sich da ab und werden vom Westen gar nicht wahrgenommen. Das erklärt den Vorwurf der Arroganz, der dem Westen häufig gemacht wird.

Bei aller Vergleichbarkeit radikaler politischer Bewegungen, etwa des Islamismus mit dem Maoismus, gibt es doch immer auch Kulturspezifisches. Ich habe den Eindruck, dass gerade im Bezug auf den Islam viele Experten davor zurückschrecken, das zu benennen, aus Angst, gleich die gesamte Religion in Misskredit zu bringen. Nur kann man nicht ernsthaft behaupten, der Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun.

Ich denke, die einzige Form, damit umzugehen, ist, zu zeigen, wo genau der Islamismus etwas mit dem Islam zu tun hat, wo er islamische Ideale zu verfolgen sucht. Der Islamismus hat diesen Gestus, wir gehen zurück zu den Quellen, um die kulturellen Traditionen zu kritisieren, die sich vor den Quellen abgelagert haben und den Zugang zu ihnen versperren. Man versucht, in einer Reinheitsgeste zum Eigentlichen zurückzugehen. Das aber heißt immer, dass man sich in diesen Aussagen auf den Islam pur bezieht, auf das Gesellschaftsmodell. So gesehen ist der Islamismus durch und durch islamisch. Der Punkt, der aber faszinierend ist, ist, dass uns diese Bewegung ja vertraut ist. Die Bewegung ad fontes, mit der man die Tradition kritisiert, ist das, was wir als unsere Wurzeln der Moderne ansehen. Wenn ich mir dann meine Kaplan-Gemeinde ansehe, dann sieht man, dass in dieser Bewegung zurück zu den Quellen etwas ganz anderes, lebensgeschichtlich Erfahrbares hochkommt. Man bekennt sich beispielsweise zu einem klassischen Individualitätskonzept wie im Islam – das heißt, dass man zu sich selbst findet in der Gemeinschaft, in dem man das Gesetz in sich einschreibt und so weiter, und darauf verzichtet, die Welt zu gestalten – also das Gegenteil von dem autonom handlungsfähigen Subjekt, das wir vertreten – das wird vertreten, als Position. Aber indem sie sich als Autodidakten dem nähern, schlagen sie einen ganz individuellen Weg zu diesem Ideal ein. Und wenn sich eine zweite Generation dieses Ideal aneignet durch die Mittel, die sie von uns gelernt haben, dann machen sie das in einer Form, die damit bricht. Ich würde darum letztlich postulieren: The Medium is the Message. Sich so etwas als Autodidakt aneignen oder als Universitätsstudent, der durch ein westliches Lernmodell gegangen ist, dann eignet man sich zwar die Archaik an, aber mit modernen Mitteln, und hebelt sie damit auch aus. Wobei andererseits Rattenfänger gerade in Buchreligionen viel Evidenz finden, um sich eine kämpferische Ideologie zu basteln. Der Koran ist ja nicht arm an kämpferischer Sprache – wie das Alte Testament auch.

Ist eine bestimmte Deutung nicht schon in der Schrift festgelegt?

Es gibt Koransuren, mit denen man Gewalt rechtfertigen und legitimieren kann. Die Frage ist dann aber immer – findet man intellektuell überzeugende Deutungen, die ein anderes Bild entwerfen? Zum Beispiel eine intellektuell überzeugende, religiöse Argumentation, warum ein islamischer Staat vielleicht nicht unbedingt erstrebenswert ist.

Das Problem ist nur, dass Leute wie Kaplan bislang offenbar die intellektuell überzeugenderen Argumente hatten.

Deswegen hoffe ich, dass ein europäischer Islam hier neue Perspektiven eröffnet.