„Der Terrorismus ist wahllos geworden“

Die Bedrohung durch das Al-Qaida-Netzwerk mag entschärft sein – das Problem bleibt die Verbindung von Fanatismus und Massenvernichtungswaffen. Der Terrorismusexperte Walter Laqueur über die neuen Konstellationen des Terrors und die Gefahr, die zunehmend von kleinen Gruppen ausgehen wird

Interview JENNY FRIEDRICH-FREKSA

taz: Herr Laqueur, Sie sagten kürzlich in einer Talkshow, Afghanistan sei im Grunde nur ein Nebenschauplatz. Was heißt das?

Walter Laqueur: Afghanistan ist aus zwei Gründen zum Hauptkriegsschauplatz geworden. Erstens, weil so viele Journalisten dort sind – fast selbstverständlich sind ja genauso viele Journalisten wie Soldaten im Land –, und zweitens, weil Bin Laden sich vielleicht dort verborgen hält. Aber wenn man die Sache nicht von dem Standpunkt aus betrachtet, was bereits geschehen ist, sondern was in Zukunft noch geschehen könnte, dann ist Afghanistan unwichtig. Ob man Bin Laden fängt oder nicht, ob er sich nun irgendwo versteckt oder nicht: Er wird sicher nicht mehr in der Lage sein, von Afghanistan aus etwas zu koordinieren. Aber es ist keineswegs so, wie manche Leute denken, dass man den Krieg jetzt langsam gewonnen hat und vielleicht fängt man noch Bin Laden, und das war’s dann. Das ist falsch. Afghanistan ist höchstens das Ende vom Anfang.

Und wo liegt der wahre Hauptschauplatz?

Es gibt viele Schauplätze, denn es ist zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit der Fall, dass relativ viele Menschen Zugang zu Massenvernichtungswaffen haben können. Wenn früher jemand Menschen umbringen wollte, musste er auf sie zugehen und sie erstechen oder erschießen oder sonst was tun. Jetzt hingegen gibt es nukleare und chemische Waffen und damit ganz andere Gefahren. Wenn man mal jenseits von Bin Laden denkt, dann ist es durchaus vorstellbar, dass auch Leute mit völlig anderen Ideologien solche Taten verüben. Oder Wahnsinnige, vielleicht kleine Gruppen von nur vier oder fünf Leuten, die glauben, dass man alles vernichten sollte, weil die Welt sündig sei oder die Menschen unheilbar korrupt.

Heißt das, die Gefahr liegt weniger in den großen Netzwerken als in den Kleingruppen?

Heute und sicher auch in den nächsten Jahren geht natürlich eine massive Gefahr von den antiwestlichen Gruppen aus. Aber im Prinzip will ja Bin Laden nicht die ganze Welt kaputtmachen, sondern er will nur, dass sich alle zum Islam bekehren. Aber es ist jetzt manches denkbar, das es bisher nur in Science-Fiction-Geschichten gab, der Typus des verrückten Wissenschaftlers zum Beispiel. Es gibt Dinge, die bis vor kurzem den Leuten völlig fantastisch erschienen, die jetzt aber bereits Wirklichkeit geworden sind oder in den nächsten Jahren Wirklichkeit werden können. In vielen Ländern besteht die Möglichkeit, dass kleine oder große Gruppen sich organisieren. Jetzt kann man natürlich fragen: Wo gibt es heute Staaten, die fähig sind, ABC-Waffen herzustellen? Es gibt weltweit 15 bis 20 Länder, die die Kapazitäten haben, diese Waffen zu produzieren. Bei Atomwaffen sind es weniger, aber biologische und chemische Waffen sind relativ leicht herzustellen.

Ist die Konzentration auf den Irak der nächste logische Schritt der Terrorbekämpfung, wenn der Krieg in Afghanistan vorüber ist?

Ich denke, es wird der Irak sein. Theoretisch kommen natürlich auch andere Länder in Frage, wie der Sudan, Somalia, Libyen oder der Iran. Die Amerikaner konzentrieren sich auf den Irak, weil Saddam Hussein bereits mit allen möglichen Waffen experimentiert und es auch offen zugegeben hat. Der Irak ist das einzige Land, das bisher anderen Ländern mit diesen Waffen gedroht hat und sie auch angewandt hat, zum ersten Mal im Jahre 1988, im Krieg gegen den Iran. Bei den Inspektionen, die es bis 1998 im Irak gab, wurden die Inspekteure zwar an der Nase herumgeführt, trotzdem haben sie aber eine Menge Waffen gefunden. Man weiß nicht, ob das nun 50 oder 80 Prozent waren, aber man konnte sie vernichten, bis Saddam Hussein den Inspektionen ein Ende bereitete. Ich denke nicht, dass die Amerikaner jetzt demnächst eine Atombombe auf Bagdad werfen werden, aber sie werden Saddam Hussein wahnsinnig unter Druck setzen. Sie werden fordern, und zwar sicher ultimativ, dass die Inspektionen fortgesetzt werden und dass alles, was man findet, vernichtet wird. Und wenn das nicht geschieht – nun ja. Man wird nicht tolerieren, dass jemand, von dem man weiß, dass er diese Waffen besitzt, sie auch behält.

Was wird es für die Anti-Terror-Koalition bedeuten, wenn sich die USA entscheiden sollten, militärische Schritte gegen den Irak einzuleiten?

Eine Reihe der Bündnisländer wird da nicht mitmachen, denn es ist ja nicht bewiesen, dass Bagdad bei den bisherigen Anschlägen seine Hände mit im Spiel hatte. Aber das ist für Washington auch nicht entscheidend. Entscheidend ist: Saddam Hussein hätte es tun können. Er ist ein Spieler. Im Golfkrieg hat er Raketen auf Israel geschossen. Es ist nichts passiert oder fast nichts, denn Israel hat nicht reagiert. Wenn damals in Israel allerdings so etwas wie jetzt im September in New York passiert wäre, hätte man natürlich etwas getan. Man kann leider nicht darauf vertrauen, dass Saddam Hussein etwas aus der Afghanistan-Geschichte lernt. Er ist sehr unberechenbar und deshalb wird es eine schwierige Entscheidung werden. Es kann sein, dass sich Amerika entscheidet, nichts zu tun, wenn es keine Unterstützung dafür hat – zumindest so lange, bis wieder etwas passiert. Es könnte aber auch sein, dass Amerika sehr schnell handelt, dass ein eventueller Militärschlag schnell vorüber wäre, ohne einen richtigen Feldzug und insofern auch mit weniger weit reichenden Konflikten innerhalb der Anti-Terror-Koalition.

Wer wird sich innerhalb der amerikanischen Regierung eher durchsetzen: die Hardliner um Rumsfeld oder Powells gemäßigteres Lager?

Das weiß ich nicht. Das hängt tatsächlich sehr von Saddam Hussein und seinem Verhalten ab.

Welche Rolle spielt in Zukunft die Arbeit der Geheimdienste?

In der Vergangenheit haben die betreffenden Staaten sich ja vor allen Dingen gegenseitig angegriffen und nicht die westliche Welt. Amerika hat sich als schwach erwiesen, was die Arbeit der Geheimdienste anging, aber es hat Geld. Mit Geld lässt sich sehr viel erreichen. Mit Geld kann man sich Unterstützung kaufen oder Nachrichten und alles mögliche andere. Dieses Mittel hat Amerika bisher nicht wirklich eingesetzt, was an der pseudo-puritanischen Einstellung liegt. Man ist bereit, tausende von Bomben zu werfen, die eine Menge Geld kosten, aber nicht bereit, Leute zu bestechen. Es klingt zynisch, und ich sage auch nicht, dass das die ideale Lösung ist, aber wenn man das Problem Irak mit Geld in der einen oder anderen Weise lösen kann, dann wäre das vielleicht humaner, weil es viel weniger Menschen umbringen würde als ein Krieg.

Aber man würde den USA natürlich vorwerfen, wieder den Falschen finanziell zu unterstützen.

Ja, sicher. Dennoch ist Geld eine wichtige Waffe, die Amerika zum Teil noch nicht eingesetzt hat. In 90 Prozent der Fälle unterstützt man irgendwelche Scharlatane. Aber bei 10 Prozent tut man vielleicht das Richtige. Ich denke, im Fall des Irak sollte man versuchen, Saddam Hussein mit Hilfe der Russen oder der gemäßigten arabischen Länder klar zu machen, dass man nicht bereit ist, sein Verhalten zu tolerieren. Wenn das gelingt, was zu hoffen ist, wäre das natürlich gut. Aber wenn es nicht gelingt, dann muss man etwas tun, denn die Risiken sind einfach zu groß und das ist den meisten Menschen noch nicht klar. Wenn sie Terror hören, denken viele immer noch an Baader-Meinhof oder Carlos. Aber heute besteht die Gefahr nicht darin, dass zehn oder hundert Leute umkommen, sondern Millionen.

Welches sind die immer gleichen Mechanismen, die sich bei terroristischen Anschlägen feststellen lassen, und was hat sich in jüngster Zeit grundlegend verändert?

Neu ist eine Konstellation, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hat, nämlich die Verbindung von Fanatismus und Massenvernichtungswaffen. Früher war ja Fanatismus relativ ungefährlich, während er jetzt, besonders der Fanatismus religiöser Art, mit den technischen Möglichkeiten einen ganz anderen Stellenwert bekommt.

  Der Terrorismus im 19. Jahrhundert oder zur Zeit des Ersten Weltkriegs war, und das klingt komisch, relativ humanistisch. Man wollte irgendeinen General umbringen oder einen Minister, aber man hätte das nie getan, während er sonntags mit seiner Familie spazieren ging. In unserer Zeit ist der Terrorismus wahllos. Je mehr Menschen umgebracht werden, desto besser. Es müssen nicht mal die Leute sein, die für die direkten Übeltäter gehalten werden. Das ist ein sehr großer Unterschied, und er bedeutet eine zunehmende Brutalisierung und Verrohung.

Finden Sie, dass der heutige Terrorismus richtig bekämpft wird?

Nein, denn es werden vor allem militärische Mittel eingesetzt. Aber es ist nicht die Aufgabe des Militärs. Auf den Militärakademien wird alles Mögliche beigebracht, aber nicht, wie man Terrorismus wirksam bekämpft. Man kann sagen, dass es in Afghanistan eine Berechtigung für einen Militäreinsatz gab, aber in Zukunft und in anderen Ländern sollte es nicht die Aufgabe des Militärs sein. Das sollten andere tun: Bankfachleute und andere Spezialisten. Eine andere ungeheuer wichtige Sache ist Propaganda, etwas, was man heute überhaupt nicht nutzt. Die Amerikaner sind sehr gut in Reklame und sehr schlecht in Propaganda. Propaganda ist natürlich ein hässliches Wort, kein Mensch will es benutzen. Ich meine damit, dass man den Menschen die Dinge erklärt, zum Beispiel, wie groß die Gefahr tatsächlich ist, oder auch, dass die Islamauslegung von al-Qaida eine eigene, sehr eigenwillige ist und keine bedeutende Interpretation des Islam.

Wie wichtig sind personalisierte Feindbilder? Sollte man Bin Laden finden, braucht man dann einen neuen Gegner?

Die Medien glauben, dass man jemanden braucht. Ich halte nicht viel von dieser Personalisierung. Wenn man jemanden als dämonische Kraft aufgebaut hat und er ist plötzlich nicht mehr da, dann denken alle, es ist zu Ende, aber so ist es eben nicht. Das gleiche gilt für die Benutzung des Wortes Krieg. Man benutzt diese Übertreibungen in der politischen Sprache, um den Leuten klar zu machen, dass es wirklich ernst ist. Krieg, Bin Laden, al-Qaida … die ständige Verwendung dieser Namen und Begriffe ist zweischneidig. Natürlich ist al-Qaida eine gefährliche Gruppe, aber es ist eine von vielen. Genauso falsch ist es, immer nur von einem Terrorismus zu sprechen, als ob Terrorismus nicht in unterschiedlichsten Formen auftreten würde, als religiöser Fanatismus oder als Nationalismus beispielsweise. Richtiger wäre es, von Terrorismen zu reden.

Spielt die Symbolkraft terroristischer Anschläge heute eine größere Rolle als früher?

Das hat man lange gedacht, und bis vor kurzen hat das wohl auch gestimmt. Aber wenn so etwas passiert wie vor vier Monaten in Manhattan, dann geht es nicht nur um die Symbolkraft. Tausende von Menschen sind ja nicht einfach ein Symbol. Und es ist natürlich auch ein Schlag gegen die Wirtschaft und ein Schlag gegen das Prestige. Das kann man nicht mehr nur mit Symbolik erklären. Zum ersten Mal besteht die Möglichkeit, einen Feind zu liquidieren. Liquidation ist kein Symbol.

Man weiß, dass die mediale Berichterstattung über Anschläge eine wichtige Rolle im System des Terrors spielt. Sollte Terroristen weniger Raum in den Medien gegeben werden?

Auch das ist vor allem früher richtig gewesen. Für die Medien bedeutet diese neue Situation eine schmale Gratwanderung. Einerseits will man natürlich keine Panik hervorrufen, andererseits: Wenn man den Menschen nicht sagt, was passieren kann, dann ist das auch enorm gefährlich. Und: Wenn man in einer Demokratie lebt, kann man ja die Berichterstattung nicht unterdrücken.

Besteht die Gefahr, dass die Maßnahmen gegen den Terror auf Dauer die Demokratien aushöhlen?

Die Gefahr ist ungeheuer groß. Denn kleine Gruppen, die vielleicht nur aus Familienmitgliedern bestehen, sind eben viel schwerer zu bekämpfen. Je kleiner und unkontrollierbarer diese Gruppen werden, umso größer wird der Wunsch nach Kontrolle Einzelner werden. Man kann nur hoffen, dass das keine Orwell’schen Züge annimmt, denn es kann natürlich keinen absoluten Schutz geben. Man kann nur die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen verringern. Aber Terrorismus wird es geben, solange es menschliche Konflikte gibt.