Konstant inkonstant

Die wirtschaftliche Lage und die Politiker der Türkei garantieren, dass das Chaos andauert. Dennoch nähert sich das Land seit dem 11. September erfolgreich der EU an

Der Dialog zwischen Islam und Christentum sollte in Istanbul geführt werden. Hier wäre der beste Ort

„Was ist der Grund, warum die Türkei im Unterschied zu Argentinien bislang nicht im Chaos versunken ist?“, fragte unlängst der bekannte türkische Kolumnist Mehmet Ali Birand. „Haben wir eine bessere Regierung, waren unsere Schritte zur wirtschaftlichen Sanierung erfolgreicher?“ „Nein, nein“, so versicherte er den Lesern, „wir hatten Bin Laden!“

Seit dem 11. September ist in den Augen von USA und EU die geografische Bedeutung der Türkei, die auch davor schon eine wichtige Rolle für die Außenbeziehungen des Landes gespielt hat, noch einmal gestiegen. Die Türkei liegt an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, das Land ist die einzig muslimische Gesellschaft, die eng mit EU und der Nato verzahnt ist. Allein dadurch beweist es jetzt, dass der Westen keinen Krieg gegen den Islam führt. „Die können uns im Moment gar nicht Pleite gehen lassen“, ist denn auch der Tenor im politischen Establishment des Landes, und die Tatsachen geben ihm Recht.

Vor kurzem hat der IWF zu den bereits bewilligten 25 Milliarden Dollar für dieses Jahr noch einmal 10 Milliarden in Aussicht gestellt, mit denen die Türkei ihre In- und Auslandsschulden tilgen soll. Dabei spielte es kaum eine Rolle, dass die bereits mehrfach prognostizierte Wende zum Besseren in der türkischen Ökonomie nicht in Sicht ist: Seit Beginn der Krise im Februar letzten Jahres haben über eine Million Menschen ihren Job verloren, und die Produktion in vielen Branchen liegt nach wie vor danieder. Chaos in der Türkei, dem Land, von dem der Nachschub nach Afghanistan geflogen wird und das als Basis für alle möglichen Operationen gegen den Irak dienen soll, das können die USA nun gerade gar nicht brauchen.

Trotzdem ist die Balance am Rande des Abgrunds natürlich keine komfortable Lage. Warum, so fragen nicht nur Kritiker innerhalb der Türkei, kann die Regierung aus dieser geopolitisch einmaligen Situation nicht mehr machen, als nur die Hand aufhalten und weitere Kredite aus den Fonds des IWF und der Weltbank herausholen? Warum wird die Türkei nicht zum Mittler zwischen Ost und West, warum wird der Dialog zwischen Islam und Christentum nicht in Istanbul geführt, wo doch kaum eine andere Stadt der Welt sich so sehr dafür anbieten würde?

Es ist ja nicht so, als ob diese Fragen nur in entlegenen oppositionellen Zirkeln gestellt würden. Außenminister Ismael Cem, einer der wenigen Intellektuellen im politischen Establishment, hat durchaus versucht, Akzente in diese Richtung zu setzen. Die Türkei hat sich als eines der ersten Länder als Gastgeber für eine afghanische Friedenskonferenz angeboten, die dann bekanntlich in Bonn stattfand. Die Türkei wäre bereit gewesen, mehr als 3.000 Soldaten für eine UN-Friedensmission zu stellen. Ja, sie war auch von Anfang an bereit, die Führung dieser Mission zu übernehmen, was sie nun offenbar im Anschluss an das dreimonatige britische Kommando endlich tun darf. Auch im Nahen Osten, wo die Türkei tatsächlich zu den ganz wenigen Staaten zählt, die sowohl zu Israel als auch zu den Palästinensern ein gutes Verhältnis haben, hat sich die derzeitige Regierung mehrfach als Vermittler angeboten – bislang vergebens. Für Februar plant Außenminister Cem nun einen großen Kongress in Istanbul, wo die Türkei Vertreter des Westens mit Repräsentanten der Organisation islamischer Staaten zusammenbringen will.

Dass aus den bisherigen Anstrengungen der Türkei, sich entsprechend ihrer Lage diplomatisch stärker zu profilieren, bislang so wenig geworden ist, hat auch damit zu tun, dass viele Leute in Washington und Brüssel nicht zu Unrecht sagen: Die sollen doch erst mal ihre Probleme mit ihren Nachbarn klären, bevor sie auf der Weltbühne als Friedensstifter auftreten. Quasi in letzter Minute, unmittelbar bevor ein irreparabler Schaden entstanden wäre, hat die türkische Regierung deshalb in manchen Fällen eingelenkt, in denen ihre Beziehungen zur EU schwer belastet waren. Vor allem bei der Zypernfrage: Hier hat auf Druck aus Ankara Raulf Denktasch, Chef der Zyperntürken, Anfang dieses Monats die Gespräche mit den Zyperngriechen wieder aufgenommen. Beim EU-Gipfel in Laeken hat sich das für das Land unmittelbar ausgezahlt. Erstmals wurde die Türkei in der langfristigen Planung der EU berücksichtigt und wie die anderen Beitrittsländer für den Konvent zugelassen. Darüber hinaus verkündete Spanien, das seit 1. Januar den EU-Vorsitz innehat, es wolle den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei forcieren. Was für andere EU-Bürger längst Routine ist, geschah vor wenigen Tagen in der Türkei das erste Mal: Die EU informierte die Türken per ganzseitige Anzeige in allen großen Zeitungen über den Gipfel in Laeken.

Die EU kann langfristig nur zu einer sicheren Region werden, wenn sie ihre Peripherie einbindet

Trotz dieses diplomatischen Zwischenhochs kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass ein grundlegender Wandel der türkischen Politik nicht bevorsteht. Dafür bürgt die amtierende Regierung genauso wie die Opposition. Regierungschef Bülent Ecevit ist 76 und gibt durch sein gebrechliches Auftreten und diverse Versprecher immer wieder Anlass zu Spekulationen über seinen Gesundheitszustand. So wurde schon vor Monaten kolportiert, er sei nur noch wenige Stunden am Tag arbeitsfähig. Sein Koalitionspartner Devlet Bahceli, Chef der ultrarechten MHP, blockiert jede Reform, die er blockieren kann, und Juniorpartner Mesut Yilmaz, der Mann Europas, hat durch diverse Korruptionsgeschichten jedes Vertrauen verspielt. In der Opposition wartet die schon einmal gescheiterte Tansu Çiller und die neu gegründete, proislamische AK-Partisi, von der aber noch niemand weiß, wie sie sich außenpolitisch verhalten wird. Über allem schwebt das Damoklesschwert der Wirtschaftskrise, die trotz aller Beschwörungen und immer neuer IWF-Kredite das Land noch auf Jahre zu lähmen droht. Diese ökonomische Situation plus das politische Personal, welches ja nicht unerheblich daran beteiligt war, die Krise herbeizuführen, bieten eine sichere Gewähr dafür, dass die Türkei auch in den kommenden Jahren genauso vor sich herstolpern wird, wie sie es in den letzten Jahren getan hat.

Dennoch wissen auch die türkischen Politiker, dass dem Land zum europäischen Markt keine wirkliche Alternative bleibt und nur eine fortschreitende Integration letztlich für Stabilität sorgen wird. Auf der anderen Seite ist in den europäischen Kanzleien im Anschluss an den 11. September noch deutlicher geworden, dass auch die EU langfristig nur dann zu einer prosperierenden, demokratischen und für ihre Bürger sicheren Region wird, wenn sie ihre Peripherie einbindet und so Stabilität exportiert. Deshalb hat der 11. September es allem Kulturkampfgeklingel in den Feuilletons zum Trotz wahrscheinlicher gemacht, dass die Türkei – vorausgesetzt, die erste Erweiterungsrunde von Zypern bis Polen wird erfolgreich bewältigt – zusammen mit Rumänien und Bulgarien in einer zweiten Erweiterungsrunde dabei sein wird. Wahrscheinlich sogar schneller, als die meisten jetzt denken. JÜRGEN GOTTSCHLICH