Qualvoll elegant

Schreiben im brennenden Haus der Geschichte: W. G. Sebald ist tot. In seiner Wahlheimat Norwich starb der Schriftsteller bei einem Autounfall

von DIRK KNIPPHALS

Mit den Phänomenen Tod und Vergänglichkeit sind seine Texte, bei deren Beschreibungen kaum einmal die dunklen Wörter „elegisch“ und „melancholisch“ fehlen, durchaus vertraut. Dieser Tod aber wirkt bei diesem Autor zunächst seltsam gewaltsam. Am vergangenen Freitag ist der deutsche Schriftsteller W. G. Sebald, der seit 31 Jahren im englischen Norwich lebte, im Auto von seiner Fahrbahn abgekommen und mit einem entgegenkommenden Lkw zusammengestoßen. Er starb 57-jährig an den Folgen des Unfalls.

Was vor allem zunächst nicht ins Bild passen will, das ist das Auto. Wenn etwas zum zentralen Motiv von Winfried Georg Max Sebald, den alle nur W. G. Sebald schrieben, erklärt werden kann, dann sind es eher Spaziergang und Wanderschaft. „Eine englische Wallfahrt“, so heißt seine Essaysammlung „Die Ringe des Saturn“ aus dem Jahr 1995 im Untertitel. Auf dem Umschlag sieht man den Autor mit Hut, Rucksack und Spazierstock eine ländliche Straße hinabwandern.

Sebald hat für das Buch Exkursionen zu Fuß durch die Landschaft seiner Wahlheimat Suffolk unternommen und die Spuren, die er dort vorfindet, mit der großen Weltgeschichte verknüpft. Ein Schädel aus dem 17. Jahrhundert, der in einem Krankenhaus aufbewahrt werden soll, bringt den Erzähler auf Rembrandts berühmtes Gemälde einer Sektion. Heruntergekommene Ungetüme von Palästen erzählen vom Glanz und Verfall des britischen Empire. Über einige Scherben gelangt der Erzähler zu den chinesischen Boxeraufständen. Aus konkretem und gelegentlich scheinbar abseitigem Anschauungsmaterial die zivilisatorische, oft genug aber auch zerstörerische Arbeit der Vergangenheit herauszulesen, das lässt sich als der Grundantrieb verstehen, der hinter Sebalds „wunderschönen Prosabögen“ (Stephan Wackwitz) wirkt.

Sebalds Bücher tendieren so von sich aus zum Hybriden, zu Büchern ohne Familiennamen, wie Michael Rutschky so etwas nennt – dabei auch an Walter Kempowski oder Alexander Kluge denkend. Als Romane lassen sich seine Bücher nicht wirklich bezeichnen, aber erst recht nicht als Essays. Fiktives, Gefundenes und Berichtetes drängen hier zusammen. Und über W. G. Sebalds Verwendung von Fotografien und Abbildungen, die er seinen Texten beifügt, werden, wenn es nicht sowieso schon längst geschieht, einmal literaturwissenschaftliche Seminararbeiten geschrieben werden.

Arthur Lubow hat das Verfahren in einem kürzlich in der New York Times erschienenen Porträt des Autors so beschrieben: „Herr Sebald schreibt in einem hybriden Genre aus Erinnerung, Roman und Essay.“ Das folgende Zitat gibt einen Eindruck davon, wie hochtourig bei Sebald – der vor einigen Jahren die seltsame Debatte um Literatur und Luftkrieg anstieß – der Motor hinter seiner auf den ersten Blick so „makellosen Prosa“ (Der Spiegel) lief. Er sagte zu Lubow: „Ich kann es nicht aushalten, zwei Jahre lang im Münchner Kriegsarchiv zu sitzen. Also muss ich hineinstürmen, ein oder zwei Wochen da sitzen und meine Sachen zusammensuchen wie jemand, der weiß, dass er nicht viel Zeit hat. Man sammelt Dinge auf wie ein Mensch, der ein brennendes Haus verlässt, was bedeutet: Man tut es sehr zufällig.“

Das Bild eines brennenden Hauses, aus dem man, wild Gegenstände zusammenraffend, etwas retten will, das trifft den Kontext, in dem W. G. Sebald schrieb, ganz gut. Berühmt wurde er 1992 mit dem Band „Die Ausgewanderten“, in dem er das Schicksal und das Scheitern von vier deutschen Emigranten erzählt, die vor den Nazis ins Ausland fliehen und sich dort nicht zurechtfinden können. Das Buch wurde ein riesiger Erfolg bei der Kritik und den Lesern, viele Literaturpreise folgten. Sebalds Bücher machten Karriere, auch im Ausland. „Austerlitz“, den jüngsten, in diesem Frühjahr erschienenen, na ja, Roman, zählt die New York Times Book Review zu den neun besten Büchern dieses Jahres. In Form von Reiseberichten arrangiert, erzählt es von den Recherchen eines Juden, dessen Familie im Holocaust umgebracht wurde.

Über die „Ausgewanderten“ hat niemand Geringeres als Susan Sontag geschrieben: „Eine Welt ist verloren gegangen. [. . .] Das fängt beim europäischen Haus an. Sebalds Buch über Menschen, die ihre Welten verloren haben – ruhig, elegant, qualvoll, erhaben in der Sinnlichkeit seiner Beschreibung –, ist ein genauer, transformierender Bericht über unsere Heimatlosigkeit.“ In diesem Satz liegt, ein wenig versteckt, der ganze hochproduktive Widerspruch in Sebalds Schreiben: Die Adjektive „elegant“ und „qualvoll“ gehen hier eine Verbindung ein. Das, was Sebald aus dem brennenden Haus der Geschichte gerettet hat, hat er stets auf handwerklich makellose, kunstvolle Weise zu präsentieren gesucht.

Wobei die Makellosigkeit der Prosa vielleicht die einzige Möglichkeit war, der Bedrängnis durch die aufgerafften Geschichtsfragmente zu entgehen. „Die Kunst des Schreibens ist der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit.“ Das schrieb Sebald in einem Essay über Gottfried Keller. Da es bei ihm keine festen Grenzen zwischen den Genres gibt, darf man annehmen, dass dieser Satz auch autobiografische Züge trägt.