Gerichtsreporterin unter Anklage

Eigentlich könnte sie gut in die Konsumdemokratie passen. Aber sie ist auf die Vergangenheit gestoßen

aus Santiago TONI KEPPELER

Große braune Augen und ein knallrot geschminkter Mund. Das Shirt mit Spaghetti-Trägern ist eng und betont ihren Körper. Darüber trägt sie lässig ein schwarzes Jackett. Ihr sicherer Gang auf Stöckelschuhen lässt auf langjährige Vertrautheit mit hohen Absätzen schließen. Stellt man sich so die letzte politisch verfolgte Chilenin vor? Alejandra Matus sieht eher aus wie eine in die Jahre gekommene Barbie-Puppe, und genauso unverbindlich ist ihr Plauderton. Bisweilen wirkt sie fast ein bisschen naiv.

Auch der Ort für den Gesprächstermin ist nicht eben idealtypisch für ein Zusammentreffen mit einem politischen Flüchtling. Vor gut zehn Jahren konnten Journalisten Verfolgte der Pinochet-Diktatur allenfalls nach komplizierten Verhandlungen befragen, nach einer Irrfahrt im Taxi und im Hinterhof eines unauffälligen Hauses in einem Arbeiterviertel von Santiago. Dagegen wartet Alejandra Matus im „Drugstore“, einer überdachten Einkaufspassage aus Glas und Chrom im Geschäfts- und Einkaufsviertel Providencia: Buchläden, Boutiquen, Cafés. Sie isst einen Salat.

Draußen, an der Hauptstraße durch Providencia, sind die Grün-Phasen der Fußgängerampeln so kurz, dass man die sechs Fahrspuren fast im Laufschritt überqueren muss. Chilenen, die es bis nach Providencia geschafft haben, sind immer in Eile. Entweder kaufen sie ein. Oder sie arbeiten, um die Schulden zu bezahlen. Ein Job und diverse Nebenjobs sind die Regel.

Alejandra Matus hat keinen Job. Die heute 35-jährige Journalistin hat drei Jahre an einem Buch geschrieben: „Das Schwarzbuch der chilenischen Justiz“. Als es Anfang 1999 ausgeliefert wurde, reagierte der für seine Langsamkeit bekannte Justizapparat so schnell wie nie zuvor. Innerhalb von 24 Stunden hatten die Behörden fast die gesamte Auflage beschlagnahmt. Nur ganz wenigen war es gelungen, vorher ein Exemplar zu ergattern. Ein im Buch beschriebener Richter hatte die Autorin nach dem Staatssicherheitsgesetz der Militärdiktatur verklagt. Das bedeutet Gefängnis. Matus floh in die USA und bekam dort politisches Asyl.

Alejandra Matus ist die letzte Chilenin, die ihre Heimat verlassen hat, weil sie aus politischen Gründen verfolgt wird. Derzeit ist sie zum ersten Mal wieder auf Besuch. Das Verfahren gegen sie ist vorübergehend ausgesetzt, aber nicht eingestellt. Obwohl das Staatssicherheitsgesetz inzwischen abgeschafft wurde, kann der Prozess jederzeit wieder aufgenommen werden. Matus will dieses Risiko berechnen können. Sicher weiß sie, dass sie zurück will. Sie sagt: „Ich bin eine chilenische Journalistin. Ich will in diesem Land über dieses Land schreiben.“

Die Zeichen für sie stehen nicht günstig. Am 16. Dezember wird ein neues Abgeordnetenhaus und der größte Teil des Senats gewählt. Zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur sagen alle Umfragen einen Wahlsieg der Rechtsparteien voraus, die damals den Gewaltherrscher gestützt haben. Gewinnen sie, ändert sich auf absehbare Zeit nichts an der Rechtslage.

Die Straßen in Providencia sind vollgepflastert mit ihren Plakaten. Auf allen ist neben einem Kandidaten ein Mann zu sehen, der weder ins Parlament noch in den Senat will: Joaquín Lavín. Der 48-jährige ehemalige Wirtschaftsberater Pinochets hat die Präsidentschaftswahl von 1999 nur knapp gegen den Sozialisten Ricardo Lagos verloren. 2005 will er es im zweiten Anlauf schaffen. Schon der Wahlkampf jetzt ist ganz auf ihn zugeschnitten. Lagos taucht in allen Werbespots der Rechtsallianz auf. Freundlich und scheinbar ohne Vergangenheit. Aber mit Zukunft. Eigentlich würde eine Frau wie Alejandra Matus an seine Seite passen: hübsch, professionell, erfolgreich. Sie dürfte nur keine politisch Verfolgte sein.

Matus wurde eher durch Zufall zum Flüchtling. Nach ihrem Studienabschluss an der konservativen Katholischen Universität jobbte sie zunächst bei unbedeutenden Radios, Zeitschriften und Boulevard-Blättern. 1990 ging sie zu La Epoca, der ersten Zeitungsneugründung nach der Diktatur, die sich die spanische Qualitätszeitung El País zum Vorbild genommen hatte. Bei La Epoca wurde Matus Gerichtsreporterin.

„Ich bin ahnungslos ins Justizsystem gestolpert und war erschreckt“, erzählt sie. „Ich habe viele arme Menschen auf der Suche nach Gerechtigkeit durch die Gänge von Gerichten irren sehen. Und ich wusste: Da ist eine Geschichte, die man erzählen muss.“

Eigentlich sollte diese Geschichte eine andere Autorin aufschreiben. Der Verlag Planeta, der den Großteil seiner Produktion der kritischen Analyse des nachdiktatorialen Chile widmet, hatte das Buch über das Justizsystem zunächst bei einer damals nahmhafteren Kollegin in Auftrag gegeben. Die suchte sich wegen Arbeitsüberlastung Matus als Co-Autorin und überließ ihr das Projekt schließlich ganz.

Unzählige Male spielte auch sie mit dem Gedanken, das angefangene Manuskript in die Ecke zu schmeißen. Doch dann dachte sie an die Menschen, die durch die Gänge der Gerichte irren. „Für diese Menschen habe ich das Buch geschrieben.“ Und genau so ist es geworden: Eher anekdotenhaft als analytisch. Doch wer die darin versammelten Geschichten liest, zieht daraus dieselben Schlüsse wie sie: „In Chile existiert die Justiz nicht als dritte Macht. Sie ist nicht mehr als ein Dienstleistungsbetrieb für die Herrschenden. Das war schon in der Kolonialzeit so. Das wurde während der Diktatur noch verschärft. Und das ist heute noch immer so. Es gibt zwar inzwischen ein paar mutige Richter. Aber das ist nicht mehr als ein Wechsel des Personals. Das System ist dasselbe geblieben.“

Dieses System war am Ende der Diktatur vereinbart worden: Pinochet gab die Macht ab und ließ Christdemokraten und Sozialisten gemeinsam regieren. Unter der Bedingung, dass sie die von ihm geschaffenen politischen und wirtschaftlichen Spielregeln übernehmen. Man nannte das damals „Übergang“, und der dauert noch immer an.

Der linke Soziologieprofessor Tomás Moulian nennt das nicht „Übergang“, sondern „Leopardismus“ – in Anspielung auf jenes Zitat aus Giuseppe di Lampedusas Roman „Der Leopard“, nach dem sich alles ändern muss, damit alles so bleibt, wie es ist. Zuerst habe Pinochet die Linke gebrochen und die Gewerkschaften zerschlagen. Dann wurden massenhaft Kreditkarten eingeführt. Die Freiheit der Staatsbürger wurde in der Diktatur zur Freiheit der Konsumenten umgebogen. Konsumenten kümmern sich nicht mehr um politische und gewerkschaftliche Organisierung, sondern darum, wie sie ihre Schulden abbezahlen. Selbst ein Sozialist als Präsident ist nach dieser Lesart keine Gefahr mehr, sondern Teil des von Pinochet begonnenen Spiels.

Doch immer mehr Chilenen spielen nicht mehr mit. Potenziell gibt es rund acht Millionen Wähler. Doch zwei Millionen haben sich erst gar nicht ins Wahlregister eintragen lassen und gehen also am 16. Dezember nicht zur Wahl. Von den Eingeschriebenen stimmten bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr trotz strafbewehrter Wahlpflicht weitere 13,2 Prozent nicht ab. Rechte wie linke Kommentatoren gehen davon aus, dass dieser Prozentsatz am kommenden Sonntag noch einmal kräftig steigt. Das nützt der Rechten.

Doch „Desinteresse an der Wahl bedeutet nicht gleichzeitig Desinteresse an der Politik“, sagt Moulian. Im Gegenteil: Er sieht „in der Jugend eine Protestkultur wachsen“, eine „außerparlamentarische Opposition wie Ende der Sechzigerjahre in Europa“. Sie ist enttäuscht von elf Jahren Mitte-links-Regierung, in denen es zwar möglich war, einen Prozess gegen Augosto Pinochet zu beginnen. Nicht aber, ihn zu verurteilen. Obwohl die Diktatur noch immer die Gegenwart bestimmt, spielt die Vergangenheit in der parteipolitischen Debatte keine Rolle. Sie wird verdrängt, zugekleistert. Präsident Lagos hat das triste Graubraun des Regierungspalasts Moneda blütenweiß übertünchen lassen. Gerade so, als habe das Haus keine traurige Geschichte. Als habe es Pinochet 1973 nicht bombardieren lassen.

Die Aufarbeitung der Geschichte bleibt den Opfern überlassen. Oder Anarcho-Gruppen wie der Bewegung „La Funa“ (deutsch etwa: „Der Anschiss“), die ehemalige Folterknechte der Diktatur aufspürt und in öffentlichen Spektakeln outet.

Zur Aufarbeitung gehören auch Menschen wie Alejandra Matus. Eigentlich könnte sie ganz gut in die chilenische Konsumdemokratie passen. Vom Äußeren und auch von ihrer eigenen Geschichte her. Sie sagt: „Ich kann nicht behaupten, dass ich oder meine Familie unter der Diktatur gelitten hätten.“ Doch sie ist in Geschichten aus der Vergangenheit gestolpert und hat sie aufgeschrieben. Das offizielle Chile hat sie dafür ausgestoßen.