Geist des Informationalismus

Die Weltwirtschaft wird dank Internet zur globalen Wirtschaft. Eine brillante Synthese der Veränderungen bietet Manuel Castells im ersten Band seiner Trilogie „Die Netzwerkgesellschaft“

von ROBERT MISIK

Der sozialwissenschaftlichen Theorie ist in den vergangenen 150 Jahren die Macht abhanden gekommen. Bei Karl Marx konnten sich noch „alle Mächte [. . .] verbünden“, obwohl er schon wusste, dass in dem von ihm analysierten Kapitalismus nicht so sehr „Personen über die Personen“ herrschen, sondern eine subjektloses Verhältnis von Verhältnissen die gesellschaftliche Macht ergreife – der „Zusammenhang des Einzelnen mit Allen, aber auch zugleich die Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den Einzelnen“. Doch wenngleich die Macht des Kapitals in dessen Struktur gründete und nicht so sehr in der Macht des oder der „Kapitalisten“, so herrschte in der kapitalistischen Moderne auch in den Konzernen der Kasernenhofton hierarchischer Großorganisationen vor. In der Blütezeit des Industriekapitalismus, wie ihn Max Weber epochal beschrieb, sollte nicht der Staat wie ein Unternehmen, sondern dieses wie der hierarchisierte Staat organisiert werden, am besten mit einem paternalistischen „Industriellen“ an der Spitze.

War einst das Symbol der Wirtschaftsorganisation die fordistische Fabrik und das Symbol für die moderne Wissenschaft das Atom, so sind beide heute passé. Das neue Symbol ist das Netz. „Die Netzwerk-Logik, verkörpert durch das Internet, ist nun auf jeden Tätigkeitsbereich anwendbar, auf jeden Zusammenhang“, die Netzwerke bilden die „neue soziale Morphologie unserer Gesellschaft“, schreibt Manuel Castells in seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Das Informationszeitalter“. Es ist der erste Band der 1.500 Seiten umfassenden Trilogie „Die Netzwerkgesellschaft“, die zuerst ab 1997 in den USA verlegt und begeistert aufgenommen wurde. Das Opus werde einst mit Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ verglichen werden, jubilierte etwa Anthony Giddens, selbst kein Kleiner seiner Zunft.

New York, Rio, Tokio . . .

Tatsächlich gelingt es Castells, die neuartige Zeit, in der wir leben, auf neuartige Weise einzufangen – den „Geist des Informationalismus“, wie er selbst in Anlehnung an Weber („Geist des Kapitalismus“) formuliert. Dass wir die Entstehung einer gänzlich neuen Gesellschaft mitverfolgen, daran lässt der Berkely-Professor keinen Zweifel: Denn neue Gesellschaften entstehen dann, wenn nicht nur Produktion und Macht strukturell umgewälzt werden, sondern in der Folge auch die Erfahrungen, die jeder macht. Unser Alltagsverstand hängt dem nach, bekommt das Neue schwer in den Griff, weil er es mit alten Begriffen beschreibt.

Unsere Vorstellungen von „industrialisierter Welt“ und „Entwicklungsländern“ sind überholt. Die „Welt“ formiert sich heute ohne kulturelle und räumliche Zusammenhänge: die US-amerikanischen Innenstädte, französische banlieus, die shanty towns von Afrika, die unterentwickelten ländlichen Gebiete Chinas – sind „schwarze Löcher“. Umgekehrt sind die prosperierenden Regionen wie Hongkong, der Südosten Chinas oder Brasiliens keine Gesellschaften, die einfach auf die entwickelte Welt „aufholen“. Vielmehr sind sie mit ihr in einem Netzwerk der rasanten Transformation verstrickt.

Die größten alten metropolitanen Zentren wandeln sich zu globalen Innovations- und Produktionszentren (mit Ausnahme der USA, wo mit der Silicon-Valley-Kultur eine eigene Art neuer Innovationsmilieus sich formte), um sich mit neuen Ballungsräumen zu einer industriellen Sphäre des Informationalismus zu verbinden – verknüpft in einem Netz von Megastädten, wie Castells sie nennt: Tokio, São Paulo, New York, Mexiko-Stadt, Shanghai, Bombay, Seoul, Peking, Hongkong, Shenzhen – Städte, deren wesentliche Eigenart darin besteht, „dass sie extern an globale Netzwerke und an Segmente in ihren eigenen Ländern angeschlossen sind“, als „Magneten für ihr Hinterland“ funktionieren. Aus der alten Weltwirtschaft entsteht eine globale Wirtschaft, die fähig ist, „als Einheit in Echtzeit . . . auf planetarer Ebene zu funktionieren“.

Einheit in Echtzeit

Ein Netz von Netzwerken – zwischen Unternehmen, innerhalb von Unternehmen, zwischen Personen – von strategischen Allianzen, Direktinvestitionen, Joint Ventures spannt sich auf; ein Netz von Kooperation und Konkurrenz; von Cluster-Produktionen, familiaren Netzwerken; ein komplexes Maschenwerk von Konzernen und Subunternehmern; von großen und kleinen Anlegern auf den Finanzmärkten. Die moderne Informationstechnologie wird durch die Anwendung „angeeignet und neu definiert“. Produktion und Innovation heißt heute wesentlich, dass „Wissen auf Wissen“ einwirkt.

Doch so wie die Anwendung die Technik verändert und den Charakter der Innovation formt, so wirkt sie auf die „sozialen Interaktionsformen“ zurück. Mit ihr, ist man versucht zu sagen, entsteht eine regelrechte Netzwerkmentalität, die Herrschende und Subkultur vereinigt, Großkonzerne ebenso prägt wie die Antiglobalisierungsbewegung; flexible und innovative Unternehmen sind jenen Konzernen gegenüber in Vorteil, die auf traditioneller Massenproduktion beruhen, ebenso wie die „NGO-Schwärme“ (Economist) gegenüber institutionellen Apparaten klassischer Politik, Parteien oder Gewerkschaften. Networking ersetzt in jeder Hinsicht die Massenmobilisierung vergangener schwerindustrieller Zeiten.

Macht und Subkultur

Neutral ist die Technik deswegen noch lange nicht. Die ungleiche Ankunftszeit in der „Internet-Konstellation“ wird, beispielsweise, „dauerhafte Konsequenzen für das künftige Muster der Kommunikation und Kultur auf der Welt haben“ (Castells). Der Raum, den die Netzwerk-Logik öffnet, ist einer der binären Logik: innen und außen; online oder offline; null Distanz, sofortige, unbeschränkte Zugriffsmöglichkeit oder unendliche Distanz, totale Unerreichbarkeit; hier oder nirgendwo. Sie produziert ihre neuen, radikalisierten Ungleichheiten, das „Gewusst, wie“, auf dem sie beruht, und die kulturellen Patchwork-Codes, die sie generiert, schließen jene aus, die diese nicht beherrschen. Die „Unterklassen“ und „Marginalisierten“ werden buchstäblich zu „Abgeschalteten“ und können sich der Netzwerke nur bedingt bedienen, meist vermittelt über privilegierte Fürsprecher.

Castells argumentiert gegen die Simplifizierung aller Theorien des Postindustrialismus, gegen die Jeremiaden von der Globalisierungsfalle: Schwarzbücher sind seine Sache nicht; bisweilen lappt er ins Apologetische, vom Marxismus blieb Castells, der vor 34 Jahren aus dem Spanien General Francos geflohen war und der sich heute als Sozialdemokrat europäischem Zuschnitts sieht, immerhin die Fortschrittsidee, das emphatische Bekenntnis zu seinem Zeitalter. Das nimmt dem Opus wenig, denn meist wendet er sich gegen die vorschnellen Urteile mit einer Fülle von Material, Zahlen, Daten, Statistiken – banal wird er nie. Wobei dem Professor zum Vorteil gereicht, dass er die Slums in Chile ebenso gesehen hat wie die Hightech-Paläste des Silicon-Valley, dass er zum Beraterkreis von Boris Jelzin zählte und zu dem der Europäischen Kommission, dass er die japanischen und koreanischen Konzernnetzwerke ebenso aus der Nähe kennt wie die chinesischen Wirtschaftsreformer. Ohnehin bilden die Gegenbewegungen und Protestkulturen das Thema des zweiten Bandes der Trilogie („Die Macht der Identität“), die dunklen, schwarzen Ränder das des dritten („Jahrtausendwende“): Die Spannung zwischen „dem Netz und dem Selbst“, die Netzwerke der globalen Kriminalität, der Drogenökonomie, all diese Reaktionen und Folgen der Transformation mithin werden im ersten Band nur angedeutet.

Es ist die seltsame Eigenschaft von solchen Werken, die buchstäblich Epochen auf ihren Begriff bringen, dass den Leser über weite Strecken das Gefühl nicht verlässt, er wüsste das alles schon – irgendwie. Der Leser kennt die Brocken. Dennoch tut sich ein neuer Kontinent auf, ein Bedingungszusammenhang, ein Erklärungsgefüge, in das der neuartige Netzwerkstaat Europäische Union sich genauso fügt wie die Schläfer der al-Qaida, in dem der Computerfreak von nebenan ebenso seinen Platz hat wie der Sushiladen um die Ecke, der Broker in Tokio so wie der Attac-Aktivist in Heidelberg, George Soros genauso wie Ussama Bin Laden.

Manuel Castells: „Das Informationszeitalter. Band 1: Die Netzwerkgesellschaft“. Leske + Budrich, Leverkusen 2001. Aus dem Amerikanischen von Reinhart Kößler, 632 Seiten, 68 DM (34,90 €)