„Ein Einschreiten ist wichtig und notwendig“

Laut Bischof Wolfgang Huber muss es jetzt darum gehen, die Urheber der Anschläge ausfindig zu machen, ihnen das Handwerk zu legen und sie vor einen internationalen Gerichtshof zu bringen

Interview PHILIPP GESSLER
und LUKAS WALLRAFF

taz: Bischof Huber, seit den Anschlägen sind die Kirchen voll. Sind Sie ein Kriegsgewinnler?

Wolfgang Huber: Gewinnler kann man das bei einem so schrecklichen Geschehen nicht nennen. Aber es hat sich in diesen Tagen gezeigt, dass die Kirche in ihrem ureigensten Bereich wichtige Aufgaben von öffentlicher Ausstrahlung hat. Die Ereignisse haben auch dazu beigetragen, dass die, die immer wieder sagen, Religion sei Privatsache, und die Fragen des persönlichen Glaubens zur Intimsphäre rechnen, nicht Recht haben. Wenn es Vorgänge gibt, die uns so aufwühlen, brauchen wir einen Ort, an dem wir unserer Klage, unserer Unsicherheit Gestalt geben können. Das sind Kirchen.

Warum kommen die Leute dorthin? Aus Mitleid oder aus Angst vor einem Krieg?

Das kann man nicht gegeneinander ausspielen. Wer am vorletzten Dienstag in die Gesichter der Menschen geschaut hat, der hat gesehen: Sie kamen aus Trauer über gewaltsamen Tod, aus Mitleid mit den Gestorbenen und den Hinterbliebenen, aus Solidarität mit denjenigen, die in Amerika geängstigt und erschüttert waren. Wenn man dann die weitere Entwicklung der Tage betrachtet, hat sich die Sorge, was daraus folgt, immer stärker ins Bewusstsein geschoben.

Warum kamen die Trauernden nicht bei Massenmorden in Afrika oder auf dem Balkan – jedenfalls nicht so zahlreich?

In Berlin hängt das mit der besonderen Verbindung zu den USA zusammen. Und es hat damit zu tun, dass wir hier in einer Großstadt leben und uns in diese Situation sehr viel schneller hineinversetzen können. Außerdem war das Ereignis in den Medien viel präsenter als andere Formen des massenhaften Sterbens in der Vergangenheit. Aus diesem Anlass müssen wir uns die Frage stellen, ob wir es in anderen Fällen an Mitgefühl fehlen lassen.

In den USA rufen viele nach Vergeltung. In der Bibel steht „Auge um Auge, Zahn für Zahn“. Ist das hier anwendbar?

Das wird von vielen falsch verstanden. Diese so genannte Talionsformel ist entstanden aus einer Situation heraus, in der Vergeltung weit stärker sein konnte als der zugefügte Schaden. Es war denkbar in alter Zeit, dass dafür, dass jemandem das Auge ausgeschlagen wurde, der Täter umgebracht wurde. Es ist also eine Aufforderung zur Bändigung der Gegenreaktion. Aber die Bibel geht über diese Vorstellung hinaus zu der Aussage Jesu: „Du sollst Böses nicht mit Bösem vergelten. Überwinde das Böse mit Gutem.“ Das bedeutet: Sogar in dieser Situation sind wir, so schwer uns das fällt, zu einer Haltung aufgefordert, die man als intelligente Feindesliebe bezeichnen kann.

Es wird trotzdem von Vergeltungsschlägen gesprochen. Ist denn Vergeltung überhaupt christlich begründbar?

Strafe ist christlich begründbar, aber eine, die den Regeln des Rechts folgt. Das heißt, auch in dieser Situation muss es darum gehen, die Urheber ausfindig zu machen, ihnen das Handwerk zu legen und sie im günstigsten Fall tatsächlich vor einen internationalen Gerichtshof zu bringen. Alles, was jetzt passiert, muss daran gemessen werden, wie nah es an diese Zielsetzung herankommt, die eine Zielsetzung der Gerechtigkeit ist und nicht eine der Rache und Vergeltung.

Würden Sie Gegenschläge der USA öffentlich verurteilen?

Mir geht es nicht darum, im Vorhinein Handlungen zu verurteilen, die ich noch gar nicht kenne. Ein energisches Einschreiten gegen diese Art von internationalem Terrorismus ist wichtig und notwendig. Aber ungezielte, die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehende, ein ganzes Land ins Unglück stürzende Vergeltungsschläge sind nicht dasjenige, was einem zu helfen vermag – auch nicht den Amerikanern.

Ist es realistisch, dass man ohne einen die Zivilbevölkerung schädigenden Vergeltungsschlag an die wahrscheinlichen Täter herankommt?

Es kann gut sein, dass eine Analyse zu dem Ergebnis führt: Ohne einen militärischen Schlag kommt man an die Täter nicht heran. Aber dann gibt es eine Verpflichtung, ihn so genau wie möglich zu führen und die Auswirkungen für unbeteiligte Dritte so gering wie irgend möglich zu halten. Und aus diesem Grund wehre ich mich gegen den Ausdruck Vergeltungsschlag. Denn dadurch, dass unbeteiligte Dritte dabei zu Tode kommen, ist doch nichts vergolten. Im Gegenteil, man hat dann auf eine Handlung, die von abgründigem Hass und vermeintlicher Rachsucht geprägt war, im selben Geist geantwortet.

Aber ist es nicht schwierig zu definieren, wer beteiligt war und wer nicht? Die USA wollen auch die bestrafen, die Terroristen Unterschlupf gewähren.

Das halte ich auch für richtig. Man muss in dieser Situation, angesichts der Ausmaße dieses Verbrechens, von einer Regierung, die den Tätern und Drahtziehern Unterschlupf gewährt, erwarten, dass sie die Täter ausliefert. Das ist der einzige Weg, auf dem diese Regierung vermeiden könnte, dass ihrem Land Unglück widerfährt.

Dann ist die Position der Kirche keine rein pazifistische?

Pazifismus heißt: Frieden stiften. Verantwortung für den Frieden zeigt sich auch darin, dass Gewalt dort, wo sie verübt wird, wirklich zum Ende kommt. Die Kirche vertritt nicht, jedenfalls nicht generell, die Position: Wir waschen unsere Hände in Unschuld, halten uns heraus. Wenn wir bei solchen terroristischen Anschlägen sagen würden: Sie lassen sich nicht vermeiden, denn es gilt das Prinzip der Gewaltlosigkeit, dann wäre das nicht meine Position.

Also konkret: Wenn die Taliban Bin Laden nicht ausliefern, halten Sie es für gerechtfertigt, auch gewaltsam gegen das Taliban-Regime vorzugehen?

Ich halte es für gerechtfertigt, dass man eine nächste Stufe des Drucks, im äußersten Notfall auch des gewaltsamen Drucks auf das Taliban-Regime ausübt. Aber derjenige, der in einer solchen Situation den Einsatz von Gewalt für unausweichlich hält, muss erstens Gründe für die Annahme haben, dass er mit dieser Gewalt wirklich erreicht, was er erreichen will. Er muss zweitens diese Gewalt als äußerstes Mittel betrachten, das heißt, sich gefragt haben: Kann ich andere Mittel einsetzen als diese Gewalt? Und er muss drittens die Verhältnismäßigkeit wahren. Und das zeigt sich insbesondere an der Frage, wie er mit der Zivilbevölkerung umgeht.

Wenn Sie die Diskussion der vergangenenTage verfolgen, haben Sie da den Eindruck, dass der Islam verteufelt wird?

Ich finde es vollkommen richtig, was der Bundeskanzler gesagt hat: Es geht nicht um einen Kampf der Kulturen gegeneinander, sondern es geht um einen Kampf um Kultur. Ein erheblicher Teil dessen, was auch wir selber in Europa zivilisatorisch haben, verdanken wir auch der Vermittlung durch den Islam, insbesondere dem spanischen Islam im Mittelalter. Genauso wie es im Islam Tendenzen zu einem unvertretbaren Radikalismus und Fanatismus gibt, hat es sie auch im Christentum gegeben. Und gibt es noch, siehe Nordirland. Wir müssen gerade jetzt das Gespräch über die Grenzen der Religionen hinweg aufrechterhalten und intensivieren.

Glauben Sie, dass im Bemühen um einen Dialog die islamistischen Gruppen in Deutschland verharmlost und unterschätzt wurden?

Das hat es gegeben. Genauso wie es auf der einen Seite die gab, die ein neues Gegeneinander zwischen einem Reich des Bösen und einem Reich des Guten mit dem Gegensatz von christlich-abendländischer Welt und Islam ausgemacht haben, hat es die anderen gegeben, die mit einer ziemlich schöngefärbten Vorstellung von multireligiöser und multikultureller Gesellschaft die Abgründigkeiten und Konflikte, die es gibt, einfach ignorierten. Das hilft einem wirklich aufrichtigen Zusammenleben genauso wenig wie die Schwarz-Weiß-Malerei.

Wie kommen wir zu einem realistischen Verständnis des Islam, ohne Verteufelung und ohne Verharmlosung?

Dadurch, dass wir uns bemühen, ihn kennen zu lernen, nicht zuletzt unsere muslimischen Nachbarn. Dadurch, dass wir anfangen zu verstehen, was es mit den unterschiedlichen Strömungen im Islam auf sich hat. Dadurch, dass wir in unseren Schulen dafür sorgen, dass der Islam als Unterrichtsgegenstand überhaupt vorkommt. Dadurch, dass wir in unseren Schulen einen vernünftigen Religionsunterricht einrichten, der die Kenntnis anderer Religionen einschließt. Dadurch, dass wir unser Geschichtsbild und den Geschichtsunterricht nicht länger in einer so eurozentrierten Betrachtungsweise verharren lassen.

Könnte die derzeitige Auseinandersetzung zu einem Religionskrieg eskalieren?

Man kann die Gefahr nicht ausschließen, dass wir in eine kriegerische Situation geraten, in der die gegeneinander stehenden Parteien mit Christentum einerseits und Islam andererseits identifiziert werden. Aber wir dürfen dieser Entwicklung nicht ihren Lauf lassen. Es wäre politisch und ethisch nicht richtig, auf diese Verbrechen mit einem großen Krieg zu reagieren. Und wenn es einen gibt, dürfen wir ihn nicht als Religionskrieg interpretieren.

Aber es gibt diese Rhetorik, sowohl vom US-Präsidenten, der vom „Kreuzzug“ redet, wie jetzt von den Korangelehrten, die zum „heiligen Krieg“ aufrufen. Ist diese Rhetorik ernst gemeint?

Die Rhetorik ist sicher ernst gemeint. Das ist auch eine wechselseitige rhetorische Eskalation. Im Christentum haben wir gelernt, warum wir als Christen vom „heiligen Krieg“ nicht sprechen und nicht sprechen dürfen. Auch dem Islam muss man sagen, dass er gut beraten wäre, diejenigen Passagen im Koran, die den Respekt vor der Integrität des menschlichen Lebens zum Ausdruck bringen, wichtiger zu nehmen als die Tradition des Dschihad.