Die Terrorfalle

Der Westen muss seine Politik in Nahost und Afghanistan ändern. Die Verantwortlichen für die Anschläge sind zu bestrafen – aber das schützt nicht vor islamistischem Terror

Sie wären erleichtert, wenn es dem Westen gelänge, die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen

Die Terroristen haben ihr Ziel erreicht: Sie haben die höchsten Symbole der wirtschaftlichen und militärischen Macht der USA und damit der westlichen Welt beschädigt. Zieht man in Rechnung, dass Symbole im Orient einen wesentlich höheren Stellenwert haben als allgemein im Westen, erhält dieser „Erfolg“ in ihren Augen eine einzigartige Dimension: Er wird selbst zum Symbol für die Überlegenheit des Islam gegenüber dem „amoralischen, atheistischen und materialistischen Westen“. Und wenn Ussama Bin Laden tatsächlich, wie berichtet wurde, sich selbst als unschuldig betrachtet und Gott als alleinigen Urheber bezeichnet haben sollte, hätte er in seinem kruden Islamverständnis nicht einmal gelogen. Zudem hätte er den Terrorangriff zu einer göttlichen Entscheidung erhoben, verhängt als Strafe für die moralische Verderbnis des Westens. Auf einfache und jahrelang indoktrinierte religiöse Gemüter wird diese simple Logik einen erheblichen Eindruck machen.

Werden also die militanten islamistischen Terrorgruppen weiter anwachsen, die nun, nach dem „Erfolg“ in den USA, viel stärker international operieren? Ist die vielfach geäußerte Angst im Westen begründet, dass wir uns bald einer eng kooperierenden Internationale islamistischen Terrors gegenüber sehen? Erwachsen aus den in Afghanistan ausgebildeten und deshalb „Afghanen“ genannten Terroristen, die schon seit Jahren in Algerien, in Bosnien, in Ägypten, in Palästina und anderswo aktiv waren und sind? Vieles wird davon abhängen, wie die USA und vor allem auch Israel reagieren.

Würden USA und Nato einen groß angelegten Angriff auf Afghanistan oder andere muslimische Staaten unternehmen und Tausende von Toten unter der ohnehin schon aufs Äußerste gepeinigten Zivilbevölkerung zurücklassen? Und würden die USA Israel weiterhin oder sogar noch weiter gehend freie Hand bei der brutalen Unterdrückung der Palästinenser lassen? Dann wäre in der Tat vorstellbar, dass die zahlreichen mehr oder weniger militanten fundamentalistischen Gruppen, die sich bislang untereinander nicht immer grün waren, enger zusammenrücken und mit gewaltigem Zulauf aus bisher gemäßigten Kreisen rechnen könnten. Dann hätten Bin Laden und seine Gesinnungsgenossen ihr eigentliches Ziel erreicht, den von ihnen (und von Samuel Huntington und der israelischen Rechten) postulierten „clash of civilizations“.

Zweifellos können die USA und der Westen den letztlich gegen die gesamte westliche Zivilisation gerichteten Terrorakt nicht ungesühnt lassen – schon weil dies zu weiteren Terroranschlägen einladen würde. Doch wenn wir diesen „clash of civilizations“ mit allen – auch innenpolitischen – Folgen nicht wollen, muss unsere Reaktion so sein, dass wir nicht in die gestellte Falle tappen. Jeder in der muslimischen Welt, der sich nicht den fundamentalistischen Kreisen zugehörig fühlt – und dies ist die weitaus überwiegende Mehrheit –, würde erleichtert sein, wenn es dem Westen gelänge, in gezielten Aktionen Bin Laden und seine (und andere) Terrorzellen nebst der Talibanführung in Afghanistan ihrer gerechten Strafe zuzuführen, solange dies der afghanischen Zivilbevölkerung keine erneuten Leiden zumutet.

Schließlich muss daran erinnert werden, dass es einst die USA zusammen mit Saudi-Arabien und Pakistan waren, die den Taliban die materielle und waffentechnische Unterstützung gewährt haben, um die sowjetischen Truppen aus dem Land zu treiben. Sie haben ihnen damit letztlich – gewollt oder ungewollt – zur Macht verholfen. Die USA haben somit einiges gutzumachen an der afghanischen Bevölkerung. Doch auch nach einer Vertreibung der Taliban dürfte der Westen sich noch nicht erleichtert zurücklehnen, sondern müsste dem geschundenen Land beim materiellen und politischen Wiederaufbau zur Seite stehen. Erst dann könnte in der muslimischen Welt einiges an Vertrauen in den Westen zurückgewonnen werden.

Afghanistan ist jedoch nur ein Nebenschauplatz in dieser Auseinandersetzung zwischen dem Islam und dem Westen. Kristallisationspunkt bleibt der Israel-Palästina-Konflikt. Jerusalem ist bei allen Muslimen ein verinnerlichtes Symbol (wie bei den Israelis). Deshalb wird Bin Laden nicht müde, seine militanten Anhänger gebetsmühlenhaft darauf hinzuweisen, dass „eure Brüder in Palästina sehnlichst auf euch warten“. In der muslimischen und besonders in der arabischen Welt wird Israel als von Amerikas Gnaden existierende postimperialistische Kolonie angesehen – und somit als Fremdkörper. Dies gilt nicht nur für fundamentalistische Kreise. Scharons brutale Unterdrückungspolitik tut alles, um diesen Eindruck zu bestätigen. Die USA, aber auch Europa und nicht zuletzt Deutschland, haben hier völlig versagt.

Die Mehrheit der Menschen in der muslimischen Welt gehören nicht zu fundamentalistischen Kreisen

War Clinton bis zum letzten Tag seiner Amtszeit bemüht, eine Umsetzung der Osloer Verträge zu erreichen, hat die Regierung Bush offensichtlich beschlossen, dem israelischen Treiben tatenlos zuzusehen. So wie die Taliban unter dem Eindruck der sowjetischen Besatzung in Afghanistan entstanden sind, so hat sich die Hisbullah gegen die israelische Besatzung des Südlibanon gebildet. Und ebenso sind die militanten islamistischen Bewegungen Hamas und Dschihad in Palästina als Reaktion auf die brutale Besatzungspolitik Israels aktiv geworden. Spätestens seit 1982 hatte sich die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung mit der Existenz des israelischen Staates abgefunden. Dementsprechend hat sie auch den von Rabin und Arafat besiegelten Osloer Verträgen zugestimmt – die Scharon nun als nicht mehr bindend bezeichnet.

Wollen die USA und der Westen die terroristische Gefahr, die von islamistischen militanten Gruppen ausgeht, beseitigen, genügt es nicht, die für die Terroranschläge in New York und Washington Verantwortlichen zu bestrafen. Vielmehr gilt es, die gesamte Nahostpolitik zu revidieren, sie vor allem glaubwürdiger zu gestalten. Einzelne religiös oder ideologisch Verblendete, die auch vor Terror nicht zurückschrecken, hat es in allen Gesellschaften immer gegeben. In großem Maße gefährlich werden solche Verblendete aber erst, wenn sie ein genügend großes Potenzial von Menschen finden, die sich aus einer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder psychischen Ausweglosigkeit heraus leicht zu einem radikalen Fanatismus aufstacheln lassen, der bis zur Selbstvernichtung führen kann. Derlei Ursachen zu beseitigen, muss das langfristige Ziel der Terrorismusbekämpfung sein. GERNOT ROTTER