Schokotorte und roter Plüsch

Im Wiener Hotel Sacher setzt man auf Gediegenheit und lebt vom alten Ruf. Am Eingang gibt’s ein Sakko für allzu leger gekleidete Gäste

Dass die Stammgäste stundenlang bei einem Kaffee sitzen, schätzt die Juniorchefin nicht sehr

aus Wien RALF LEONHARD

„Sollen wir für Jutta die mittelgroße mitnehmen oder doch lieber die Piccolo?“ Unschlüssig schaut ein deutsches Ehepaar auf die Sachertorten, die in eleganten Holzkistchen im Schaufenster ausliegen. Fünf verschiedene Größen gibt es: Size I in Kombination mit einer Packung Sacher-Kaffee oder einer kleinen Flasche Sekt kostet stolze 29 Euro. Die Piccoloversion ohne Schampus ist schon für wohlfeile 16,80 Euro zu haben. „Ach lass“, meint der Mann schließlich, „Mozartkugeln tun’s doch auch.“

Das weltberühmte Hotel Sacher steht an einer der belebtesten Ecken Wiens: Am Ende der Fußgängerzone Kärntner Straße, Wiens elegantester und teuerster Einkaufsmeile, knapp fünf Gehminuten vom Stephansdom entfernt. Die Staatsoper liegt gleich gegenüber. Jeder Tourist kommt unweigerlich an diesem Schaufenster vorbei.

„Sie werden platziert. Please wait to be seated.“ Schon am Eingang des Cafés ist unübersehbar, dass es sich hier um ein besonderes Etablissement handelt. Hinter den Messingständern mit der roten Kordel, die symbolisch den Eintritt verwehrt, wartet ein Kellner auf die Gäste. Nachmittags stehen die Touristen oft Schlange. Dann kann das Platziertwerden etwas dauern.

Das vielsprachige Gemurmel unter den Kristalllüstern ist so dezent, dass es keine Geräuschkulisse schafft. Auch der den Kaffeehäusern eigene Geruch von starkem Kaffee und altem Holz fehlt dem mit rotem Teppich ausgelegten Raum. Die runden Tischchen sind uniform mit einer steifen, zartrosa Tischdecke versehen. Die schweren roten Vorhänge, die den Gastraum vom Wintergarten trennen, schaffen eine gediegene Atmosphäre, die nach Einbruch der Dämmerung noch verstärkt wird, wenn die Kellner Kerzen mit Pergamentschirmchen auf jeden Tisch stellen. Bänke und Stühle sind mit rotem Plüsch bezogen. „Bitte keine Handys“, mahnt eine Messingplakette. An der Wand hängt ein Porträt der Kaiserin Elisabeth, „Sisi“, die sich gern Torten zustellen ließ, wie eine Faktur aus dem Jahr 1891 belegt, die in der Kuchenvitrine ausgestellt ist. Das Tischchen mit den Mehlspeisen in der Mitte des Lokals beherbergt auch die in einem Wiener Kaffeehaus unverzichtbaren Tageszeitungen. Stilvoll ist man hier selbst noch auf dem stillen Örtchen. Die Wandverkleidung der Pissoirs ist aus Marmor, auf dem Waschtisch stehen rosa Röschen.

Die weltberühmte Sachertorte geht eigentlich auf Fürst Metternich zurück. Klemens Wenzel Fürst von Metternich, Kanzler der österreichischen Kaiser Franz I. und Ferdinand I., war hauptverantwortlich für die repressive Politik zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution 1848. Er dirigierte das Spitzelwesen und verfolgte Freigeister. Doch immerhin gab er 1832 seiner Küche die Kreation eines besonders wohlschmeckenden Desserts in Auftrag. Da der Chefkoch verhindert war, sprang der Kocheleve Franz Sacher ein. Er kreierte eine Schokoladentorte mit Marillenmarmelade und Schokoguss, die sich bald auch bei weniger elitären Dessertliebhabern großer Beliebtheit erfreute. Das Rezept (siehe Kasten) war in den Achtzigerjahren Gegenstand eines Rechtsstreits mit der Hofkonditorei Demel. „Original Sachertorte“ darf sich seither nur die aus dem Hause Sacher nennen. Die auf einem Zettel notierte Zubereitungsanweisung wird in einem Safe verwahrt.

Das Sacher zählt nicht zu den berühmten Cafés, in denen bis in die Zwischenkriegszeit die Literaten Hof hielten oder Verschwörer wie Leib Bronstein, später bekannt als Lew Dawidowitsch Trotzki, die Oktoberrevolution planten. Diese trafen sich im Café Central, im Griensteidel oder im Herrenhof. Im Sacher verkehrten damals das Bürgertum und der Adel. Davon zeugt noch eine damastene Tischdecke, auf der sich die prominenten Besucher seit dem späten 19. Jahrhundert verewigten. Anna Sacher, die erste Chefin des Hauses, stickte die Unterschriften dann in Seide nach. Es wimmelt da von Gräfinnen und Komtessen, die ihre Namen in gestelzter Kurrent-Kalligrafie auf das Tuch setzten. Selbst Erzherzöge, Thronfolger Franz Ferdinand und niemand Geringerer als Zar Nikolai finden sich unter den adligen Prominenten. In der Mitte prangt, als besondere Trophäe, das Autogramm von Franz Joseph I., verziert mit der Kaiserkrone.

Der Imperator sei selbst nie da gewesen, sagt Alexandra Gürtler, die heutige Juniorchefin: „Hier verkehrten seine Untertanen.“ Um dennoch an die Unterschrift des Habsburgerherrschers zu kommen, habe Anna Sacher eine List angewandt: Sie sei mit der Hofschauspielerin Katharina Schratt befreundet gewesen, mit der der alte Kaiser ein Liebesverhältnis gepflegt habe. Die habe angeboten, den Monarchen bei einem Schäferstündchen um ein Autogramm auf einer Stoffserviette zu bitten. Dieses Tüchlein habe Anna Sacher dann ins Zentrum der Tischdecke eingestickt. Von Anna Sacher – sie muss ein Public-Relations-Genie gewesen sein – werden zahlreiche Anekdoten erzählt. Die Fleischhauerstochter, die laut den Chronisten ebenso fesch wie selbstbewusst war, hatte Eduard Sacher 1880 geehelicht. Da war das Hotel gerade vier Jahre alt und hieß noch Hôtel de l’Opera. Eduard, ein Sohn des Tortenschöpfers Franz Sacher, starb schon zwölf Jahre später. Seine Witwe jedoch überlebte ihn um 38 Jahre.

Auf Etikette wird Wert gelegt. Ins Restaurant darf niemand ohne Sakko und Krawatte. Curd Jürgens wurde einmal abgewiesen, weil er keinen Schlips umgebunden hatte. Ein Sakko kann man sich heute notfalls an der Garderobe ausborgen. Im Café ist man weniger steif. Hier sitzen kurzhaarige Yuppies mit Schlips und Aktentasche neben Urlaubern in Schlapphose und Pullover. Eine übergewichtige Frau, angetan mit Jeans, Sportschuhen und T-Shirt, vertieft sich in die Lektüre einer englischen Boulevardzeitung. Die muss sie wohl selbst mitgebracht haben, denn Druckerzeugnisse dieses Niveaus werden im Sacher nicht ausgelegt.

Kaum jemand verweilt länger als eine halbe Stunde im Café. Japanische Touristinnen kommen herein, laden ihre papiernen Einkaufstaschen ab, zücken ein Heftchen und lösen einen Voucher heraus, den sie in einem Wiener Reisebüro erstanden haben. Sie bekommen dafür einen großen Mokka und ein Stück Sachertorte. Die Damen aus dem Fernen Osten entsprechen auch sonst dem Klischee und knipsen noch schnell ein Erinnerungsfoto, bevor sie gehen. Zwei brasilianische Ehepaare haben sich im Sacher miteinander verabredet. Sie ziehen Apfelstrudel und Gugelhupf vor. Die beiden Damen im Eck sind die Einzigen, die über eine Stunde sitzen bleiben. Über Tafelspitz und Forelle mit Oberskren tauschen sie ihre Urlaubserlebnisse aus.

Im Hotel wie im Café wuseln ständig Kellner herum. Der Gast soll sich gut bedient fühlen. Wer im Sacher servieren will, muss neben entsprechender Ausbildung und tadellosen Umgangsformen natürlich auch die Produktkenntnisse mitbringen, also einen Cappuccino von einem Einspänner und eine Melange von einem Großen Braunen unterscheiden können.

Für Maricon Schauberger ist das kein Problem. Die 21-jährige Philippinin, die ihren Nachnamen einem österreichischen Stiefvater zu verdanken hat, ist erst seit vier Monaten im Sacher, hat aber dessen Philosophie bereits verinnerlicht: „Man muss wissen, ob die Leute gleich bestellen oder zuerst in Ruhe die Speisekarte studieren wollen.“ Manchmal gerate sie an ungeduldige Kunden. Das seien aber meistens Einheimische. „Am Vormittag kommen die Stammgäste“, sagt Oberkellner Christian Thaler. „Die sitzen dann oft stundenlang bei einem Kaffee.“

Alexandra Gürtler schätzt es nicht sonderlich, wenn diese Gäste so wenig konsumieren. „Aber ich kann sie nicht drängen.“ Die Juniorchefin ist ein smarter Twen, hat ihre Ausbildung in Frankreich, Hongkong und Wien gemacht, um dann in New York ein paar Monate Berufserfahrung zu sammeln. Dabei dürfte sie kältere Geschäftspraktiken kennen gelernt haben. Doch diesen Tribut an die Langsamkeit der Wiener Kaffeehauskultur zollt das Haus Sacher gern. Wenn sich hier eine Fast-Food-Atmosphäre einschliche, das wäre das Ende einer Institution.