Virtuelle Zukunftsmusik

Statt sich mit schlecht ausgestatteten Uni-Bibliotheken rumzuschlagen, sollen Studenten die Lehrinhalte bald bequem im Netz abrufen. Doch fürs digitale Lernen müssen sich die Unis verbünden

Schon aus rein finanziellen Gründen müssen Kooperationen sein

von FIETE STEGERS

Die „Biologie der Rebe“ lässt sich per Mausklick erforschen, phonetische Feinheiten der russischen Sprache werden Studenten via Internet durch Tondateien nahe gebracht. Mehr als 1.500 „virtuelle Seminare“ oder „Online-Vorlesungen“ laufen derzeit an deutschen Universitäten. So viele Lehrveranstaltungen zählt die Plattform www.studieren-im-netz.de, mit der die Bund-Länder-Konferenz für Bildungsplanung einen Überblick über die Angebote schaffen will.

Von der Online-Lehre versprechen sich die Befürworter viel: Statt in schlecht ausgestatteten Uni-Bibliotheken um begehrte Bücher kämpfen zu müssen oder hunderte von Seiten zu kopieren, sollen den Studenten die Lehrinhalte bequem im Netz zur Verfügung stehen. Multimedia-Elemente sollen Texte ergänzen, Verbindungen durch Hyperlinks in die Tiefe führen und Zusammenhänge aufzeigen. Überfüllte Hörsäle kennt die virtuelle Uni nicht: Die Studis können zu Hause auf das Angebot zugreifen.

Wenig überraschend gehört deshalb die Fernuniversität Hagen mit rund 140 Online-Kursen zu den Vorreitern in Deutschland. Pro Semester nehmen rund 1.000 Studierende an Internet-Übungen teil. Testaufgaben müssen die Studenten nicht mehr per Post verschicken, sondern sie werden online ausgefüllt. Ein automatisches Prüfungsprogramm gibt ihnen ein erstes Feedback und leitet die elektronischen Übungszettel an die Korrektoren weiter. Mündliche Prüfungen sind via Videokonferenz möglich.

Auch traditionelle Präsenzuniversitäten wollen virtuell werden. Die Zeit einzelner Pilotprojekte ist vorbei: „Früher waren es jeweils ein, zwei Pioniere an den Unis. Jetzt gibt es fast in allen Bundesländern Kooperationen“, sagt Claudia Bremer, die an der Frankfurter Uni Online-Seminare veranstaltet.

Umfangreichstes Projekt ist die Virtuelle Hochschule Baden-Württemberg. Der Zusammenschluss von sechs Unis bekommt vom Land 50 Millionen Mark über fünf Jahre. Ab 2003 können Studierende dort Bachelor- und Master-Abschlüsse erwerben, ohne eine Uni von innen gesehen zu haben.

Bislang ist das in Deutschland noch Zukunftsmusik: Viele Online-Kurse sind bisher nur Ergänzungen zu parallel stattfindenden Seminaren nach traditionellem Muster. Immerhin werden in den virtuellen Hochschulverbünden Online-Kurse an allen beteiligten Universitäten anerkannt – in der akademischen Welt sonst oft ein schwieriges Unterfangen. Ein Seminar, das an einer Universität nicht angeboten wird, kann über Internet an einer anderen belegt werden.

Gleichzeitig eröffnen sich Chancen zum interkulturellen Lernen: So richtet die Europa-Universität in Frankfurt an der Oder einen länderübergreifenden Studiengang Wirtschaftsinformatik mit Polen, Österreich und der Schweiz ein. Politikstudenten der Universität Münster diskutierten mit Kommilitonen des Massachusetts Institute of Technology über eine Internetplattform, die ihnen auch Kursmaterial zur Verfügung stellt. Herbert Kubicek, Informatik-Professor an der Uni Bremen, nennt ein profaneres Argument für die verstärkte Zusammenarbeit der Hochschulen: „Kooperationen müssen schon rein aus finanziellen Gründen sein“ (siehe Interview unten).

„Förderprogramme sind keine Dauerlösung“, stimmt Claudia Bremer zu. Sie ist sich sicher, wo das Geld herkommen wird: „Wir werden an Studiengebühren nicht vorbeikommen, vermutlich über den Umweg von Gebühren für einzelne Kurse.“ Sie erwartet langfristig eine Zweiteilung des klassischen Studiums durch die neuen Lehrmethoden. Optimal sei die Online-Lehre für selbstständig forschende Studenten im Hauptstudium und für Berufstätige, die sich weiterbilden wollen. „Das Grundstudium wird sich dagegen wenig verändern“, ist Bremers Prognose. Studienanfänger bräuchten nicht nur Inhalte, sondern auch eine feste Struktur. Zudem lasse sich nicht alles simulieren. „Die Chemiker müssen ins Labor gehen, um ein Gefühl für die Gefährlichkeit der Stoffe zu bekommen“, so Bremer.

Erfahrungen aus den USA zeigten aber, dass die wahren Chancen für virtuelles Lernen im Weiterbildungsbereich liegen, weil die zeitliche Unabhängigkeit Berufstätigen entgegenkomme. Hier hätten auch die deutschen Unis mit ihren bisherigen Erfahrungen und ihrem guten Namen gegenüber anderen Anbietern einen Vorsprung für die Zukunft, meint Claudia Bremer. Und damit möglicherweise die Chance auf viel Geld: In den USA ist die virtuelle Weiterbildung bereits ein lukrativer Markt.