„Betroffenheitspädagogik greift nicht“

Matthias Heyl, der Leiter der Hamburger Forschungs- und Arbeitsstelle „Erziehung nach/über Auschwitz“, über die Schwierigkeit, Migrantenkindern den Holocaust zu erklären und Mitgefühl mit den Opfern zu wecken

taz: Trägt der Geschichtsunterricht zum Nationalsozialismus der heterogenen Schülerschaft Rechnung?

Matthias Heyl: In den Unterrichtsplänen taucht die Frage der Multikulturalität für die Behandlung des Themas Nationalsozialismus kaum auf. Man fängt gerade an, über interkulturellen Geschichtsunterricht nachzudenken. Umgekehrt glauben aber viele Lehrer, der Umweg über Auschwitz bringe Jugendliche zu einer positiveren Haltung gegenüber Minderheiten. Das führt in die Irre.

Weshalb?

Dieses „Damals waren es die Juden, heute sind es die Türken“ wird weder den Juden in Nazideutschland noch Migranten in der Bundesrepublik gerecht. Und es ist doch auch eine gnadenlose Pädagogik, die türkischen Jugendlichen vermittelt: „Auschwitz ist die Folie, vor der ihr eure Zukunft sehen müsst.“

Also brauchen die Lehrer Nachhilfe?

Wir haben die Lehrerfortbildungen in den Ländern zu den Themen NS-Zeit und Holocaust für die vergangenen zehn Jahre untersucht. Mit den Seminaren wurde nur ein Bruchteil der in Frage kommenden Lehrer erreicht. Und die Herausforderung, das Thema in multikulturellen Klassen zu behandeln, ist dabei nur in Einzelfällen Gegenstand gewesen. Ein grundsätzliches Problem ist, dass es kaum Austausch zwischen Erziehungswissenschaft, pädagogischer Praxis und Politik gibt.

Was müsste denn anders gemacht werden?

Mit zeitlichem Abstand zur NS-Zeit muss man über neue Methoden nachdenken, etwa den Einsatz neuer Medien. Es geht aber noch um etwas anderes. In einer Klasse habe ich erlebt, wie der einzige Schüler afrikanischer Herkunft neben dem einzigen Skinhead saß und sagte, ihm gingen die alten Menschen am Arsch vorbei, die um ihre ermordeten Eltern weinten. Wir müssen den Jugendlichen Empathie vermitteln.

Wie kann man denn Emphatie vermitteln?

Ich höre von Lehrern auf Fortbildungen, dass es vor allem um ein verändertes Arbeiten geht. Die stellen aber auch fest, dass sie bei ihren Schülern mit deutschem Hintergrund ganz anders vorgehen müssen. Die Verunsicherung der Lehrer ist also viel existenzieller. Eine bestimmte Form der Betroffenheitspädagogik greift nicht mehr. In den Siebzigerjahren haben wir Formen von identifikatorischem Lernen entwickelt und geschaut, was damals „vor Ort“ passiert ist. Wenn die Jugendlichen aber in einer Neubausiedlung in Berlin-Marzahn leben, wo diese Geschichte so nicht stattgefunden hat, und sie sich auch nicht mit dem Stadtteil identifizieren, funktioniert das nicht mehr.

15-, 16-Jährige wollen nicht in die Opferrolle gedrängt werden. Für Jugendliche, die wegen ihrer Herkunft stigmatisiert werden, ist das doppelt schwer. Das größte Problem scheint mir, dass viele Jugendliche selbst so wenig Empathie erfahren.

Wie könnten neue Unterrichtsformen aussehen?

In einer Hamburger Klasse, die sich überwiegend aus jungen Migranten zusammensetzte, sollten die Schüler Texte in ihrer Muttersprache zum Zweiten Weltkrieg und zur Judenverfolgung mitbringen. Sie übersetzten die Texte und wiesen sich gegenseitig Blindstellen in ihren Herkunftsgesellschaften nach. Der Lehrer und die „deutschen“ Schüler haben das aber nicht genutzt, um von der eigenen Geschichte abzulenken. So kann man ins Gespräch kommen. Solche Modelle sind auch deshalb interessant, weil auch die Kompetenz von Schülern anderer Herkunft gefragt ist.

Eine Schülerin aus der Türkei forschte nach und stellte fest, dass ihre kurdische Familie an der Verfolgung von Armeniern beteiligt war. Bei Genoziden sind oft bestimmte Elemente übertragbar, und uns muss interessieren, wie aus Menschen Täter werden. Da liegt das Wiederholungsrisiko, mit dem man sich auseinander setzen muss.

INTERVIEW: NICOLE MASCHLER