„Wir werden alle immer älter . . .“

Sommerloch (2): Die 90-jährige Maria Volkmar sitzt tagtäglich in ihrem Britzer Schrebergarten, reicht Himbeersirup und besingt ihr langes Leben

„Ich wage gar nicht, daran zu denken, so ganz ohne Blumen, in der Erde“

Ein Schluck reicht, und es ist da, das Déja-vu. Maria Volkmar hat zwei Gläser auf das Wachstuch gestellt und etwas Himbeersirup eingegossen. Ein Schluck davon genügt, und Jahrzehnte schwinden dahin: Bei Großmuttern hat es damals genauso geschmeckt. Die Erinnerung meldet ein Aromagemisch von Sommerfrüchten, Wohnstube und auch einer Duftprise Fliegen-Ex – des nahen Schweinestalls wegen.

Doch in der Britzer Kleingartenkolonie kommt sofort die Gegenwart zurück, stimmgewaltig mit einem Lied auf den Lippen: „Ich spiel ja so gern auf der Klampfe, und sing mir ein Liedchen dazu . . .“, tönt Maria Volkmars Alt forsch durch den Garten. Zuvor hat sie mit einer energischen Bewegung zwei Stuhlkissen auf die Sitzbank hingepfiffen: „Da, hast’n Kissen!“ und sich anschließend in ihrem violett-weiß gestreiften Kleid unter dem Vordach der Mini-Terrasse neben ihrem Gast niedergelassen.

Das Laubenidyll geht auf die Forderung des Leipziger Arztes Daniel Gottlob Moritz Schreber nach mehr Kinderspielplätzen zurück. Als die Eltern im 19. Jahrhundert auf den Spielplätzen erste Blumenrabatten anlegten, war die Idee der Gartenkolonie entstanden.

Heute gibt, wie täglich zehntausende weiterer Berliner, auch Marie Volkmar dem täglichen Drang ins Teilzeitheim nach. In ihrer Parzelle der Kleingartenkolonie „Marienfelder Weg“ regieren Spaten, Grubber und Wasserkanne. Konfliktpotenzial bilden nur die Schnecken, die sich durchs Erdbeerbeet schleimen. Dann zieht die 90-jährige Gartenherrin mit Salzwasser und Löffel gegen die Schmarotzer zu Felde. Die Terrasse ist der ideale Ort für Gespräche – über Jugend, über Musik, über Freude und Angst und über die Kunst, mit 90 noch so fit zu sein wie Marie Volkmar. Erst vor kurzem versuchte sie ihr über Nacht an der Bushaltestelle demoliertes Fahrrad selbst zu richten. Die Kette wieder aufs Ritzel zu bringen, gelang ihr dann doch erst mit Hilfe eines herbeigeeilten Gartenkolonisten. Volkmar nimmt täglich das Rad, um ihre Parzelle am Ende des Kolonieweges zu erreichen.

Hier sucht sie morgens zwischen tintenblauem Enzian, Rosen und Rhododendron nach den Schäden eines nächtlichen Unwetters. Sie bindet Tomaten hoch, sieht nach dem Rhabarber, geht vorbei an der Krone der Goldparmäne, an der Schattenmorelle, den Johannisbeersträuchern. Pflanzenstängel, die der Schwerkraft erliegen, stabilisiert sie mit einem Pfosten, fruchtschwangeren Büschen bindet sie die Zweige zusammen. Mittags wärmt die Herdplatte eine Portion mitgebrachtes Essen, später dampft Marmelade im Topf.

Ihr (Lebens-)Rezept? Maria Volkmar setzt sich aufrecht: „Beim Schaffen bleibt man jung . . .“ singt sie mit sonorer Altstimme und souveränem Vibrato. Der Garten ist ihr Jungbrunnen: „Wenn man viel draußen ist, dann sind die Knochen fester“, sagt sie und knetet beim Sprechen ihre groben, faltigen, von viel Arbeit gezeichneten Hände. Und geknetet wird viel, denn die Frau bleibt kaum ein Wort, kaum eine Erklärung und erst recht klein passendes Lied schuldig. „Guten Tag, liebes Glück, kommst du endlich zu mir . . .“ Kommt sie richtig in Fahrt, packt sie ihr kleines Akkordeon aus der alten Kühltasche, streift die Lederriemen über die Schultern und gibt eine Kostprobe. Mit links drückt sie die Bässe, mit der Rechten die leicht holperige Melodie. Geht ihr die Literatur aus, improvisiert sie weiter.

Im Seniorinnenheim hat sie eine Westerngitarre hängen, erzählt sie. Immer donnerstags freuen sich etwa 20 Heimbewohner in der Kreuzberger Prinzenstraße, wenn Maria Volkmar für ihresgleichen singt und spielt. Einmal in ihrem Publikum zu sitzen, „in einem Pflegeheim zu leben, auf andere angewiesen zu sein“, sei ihre größte Angst. Dort werde so wahnsinnig gespart, erregt sie sich. Dabei ist es oft „ein bisschen ein liebes Wort, das fehlt“. Die Furcht vor ihrem eigenen Ende, „ich wage gar nicht, daran zu denken, so ganz ohne Blumen, in der Erde“, verdrängt sie wiederum mit einem Lied. „Wir werden alle immer älter . . .“, stimmt sie an und wischt eine Träne ab.

Schon vor 70 Jahren wurzelte sie in Britzer Erde. „Wir waren alle ohne Arbeit“, erzählt sie und schiebt das Fotoalbum herüber. 1932, während der Wirtschaftskrise, markierten ihr Verlobter und sie mit vier Steinen unweit des Britzer Gartens ihr Feld. Sie steckten Kartoffeln in den Boden, setzten Fliederbüsche und eine Laube darauf – ihre zukünftige Bleibe. Acht Jahre später kam der Krieg, kurz darauf Tochter Karin. Die ist heute 60 und lebt in Hamburg.

Mutter Maria hat ihre Stadtwohnung in Neukölln. Doch ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt sind jetzt die reichlich zwanzig Quadratmeter ihrer Gartenlaube. Aus dem Grün der Außenfassade ist über die Jahre Hellgrün geworden, von den mannshohen hölzernen Laubenwänden und den Fensterrahmen blättert die Farbe. „Die streiche ich nicht mehr“, sagt Volkmar entschieden. Warum, verrät sie nicht.

Wohl aber, dass sie die Führerscheinprüfung erst im dritten Anlauf bestand. 1964 war das. Bis 1983 fuhr sie Auto, dann gab sie den Wagen auf, „weil das so’n mieser Schlitten war“, verwischt sie aufkeimende Zweifel an ihrer Fahrtauglichkeit. Rechts vor links gelte beispielsweise auch in der Kolonie, was vor allem von den Kindern missachtet werde.

Der Jugend fehle überhaupt einfach ein bisschen Höflichkeit, beklagt die alte Dame: „Dass die Eltern denen nicht beibringen, im Bus aufzustehen.“ Volkmar sagt, was sie denkt, auch im Bus, und „dann stehen sie auch auf“, erklärt sie ihre Strategie. „Ich leg mich immer an“, sagt sie. Doch so richtig habe sie sich in ihren 70 Gartenjahren mit noch keinem gestritten. Da helfe die Disziplin, „sich nicht in anderer Leute Sachen reinzuhängen“.

Ihre Maxime? „In meinem Kreis das Beste zu tun“, verlangt sie von sich, aber auch vom demnächst zu wählenden Stadtregenten. Eigentlich „interessiert uns dat ja gar nich, is ja allet Käse“, blockt sie ab, zeigt dann aber doch politische Debattentauglichkeit: Wenn es einen gebe, „von dem ich sagen könnte: das ist ein Kerl, der die Karre aus dem Dreck zieht“, dann würde sie ihn wählen. „Aber den sehe ich nicht.“ TILMAN STEFFEN