Heldentod im Mauerstreifen

Für die DDR war er ein Märtyrer, weil ihn ein Westberliner Polizist erschoss. Dass er auf einen 14-Jährigen gezielt hatte, kam in der Legende nicht vor

von HEIKE HAARHOFF

Die Erde ist steinig und verdorrt. Nicht ein Grashalm, nicht eine Blume. Von einem Kranz ganz zu schweigen. Für wen auch? Das Grab ist lange aufgegeben. Nur die Inschrift auf dem Stein erinnert daran, wer hier vor 39 Jahren und drei Monaten, da stand die Mauer noch kein Jahr, beerdigt wurde: „Peter Göring, Unteroffizier, geb. am 28.12.1940, erm. am 23.05.1962. Er wurde von West-Berliner Polizisten hinterhältig erschossen, als er treu seine Pflicht zum Schutze der Staatsgrenze in Berlin erfüllte.“

Ein sonniger Morgen in Glashütte, Sachsen. Edgar Rahm, 65, führt über den Friedhof der Gemeinde im Erzgebirge. Es ist der evangelische Friedhof. Glashütte hat nur diesen einen. Der Mann vom Pfarramt sagt: „Also werden alle aufgenommen.“ Auch Peter Göring, der erste tote DDR-Grenzer, bei dessen Staatsbegräbnis mit Armeeaufmarsch, Ehrenformation und Feierstunde in strömendem Regen seinerzeit der Kirche bedeutet wurde, sie habe hier nichts zu suchen. Aber das tut heute nichts zur Sache. „Der Grabstein“, sagt Edgar Rahm, „soll auf jeden Fall erhalten bleiben, er wird dazu demnächst von uns umgesetzt.“

Aus Platzgründen, wie es offiziell heißt, und zwar in eine neue Halle zusammen mit all jenen, die ebenfalls zur Gruppe der „historischen Personen“ gehören. Darunter Ferdinand Adolph Lange, Gründer der Glashütter Uhrenindustrie. Ein Ingenieur, der die erste Rechenmaschine in Glashütte baute. Ein ehemaliger Direktor der örtlichen Uhrmacherschule. Ein Erfinder einer astronomischen Uhr.

Peter Göring hat nichts erfunden. Nicht einmal die Geschichte von seinem eigenen Märtyrertod. Das waren Vertreter eines Staates, den es heute nicht mehr gibt – und natürlich seine Mutter Dora Göring. Die ließ sich für den Heldenkult um ihren Sohn jahrelang einspannen, sagt Edgar Rahm. „Nur um das Grab hat sie sich nie gekümmert.“

Stattdessen müssen er und die Gemeinde sich jetzt mit dem Stein herumschlagen und mit der Frage, warum es nach der Umsetzung keine zusätzliche Tafel geben soll mit dem Rest der Geschichte, für die auf dem Grabstein von 1962 aus ideologischen Gründen kein Platz blieb: Der Geschichte des 14-jährigen Schülers Wilfried Tews aus Erfurt, der am 23. Mai 1962 durch den Spandauer Schifffahrtskanal in Berlin in den Westen fliehen will. Der Geschichte der zehn DDR-Grenzer, darunter Peter Göring, die daraufhin das Feuer eröffnen und auch dann noch weiterschießen, als West-Polizisten am anderen Ufer den schwerverletzten Jungen bereits bergen. Der Geschichte eines Schusswechsels, in dessen Folge Peter Göring stirbt, sein Todesschütze 30 Jahre später Handeln „aus Nothilfe“ gerichtlich bestätigt bekommt und demnächst, nach weiteren zehn Jahren, gegen drei Kollegen Görings wegen versuchten Totschlags verhandelt wird.

Eine Geschichte mitten aus dem Kalten Krieg, der zu glauben schwer fallen kann, wenn man fast 30 Jahre lang eine andere Version erzählt bekommen hat – und wenn man noch dazu die Familie des Mannes kannte, dessen Bild sich durch einen Wechsel des politischen Systems vom vorbildhaften Soldaten zum potenziellen Kindermörder wandelte. Kann die eigene Menschenkenntnis einen so im Stich lassen?

Durch Zufall nach Glashütte

„Bei anderen Verstorbenen gibt es ja auch keine Erklärung zu ihren Grabsteinen.“ Der Kirchenmann Edgar Rahm sieht aus, als wünsche er, Peter Göring wäre nie in Glashütte beigesetzt worden. Wo doch alles nur auf einem dummen Zufall beruht. Dem Zufall, dass der verwitwete Bauer Erich Busch 1961 die aus Dresden stammende Dora Göring heiraten musste. Edgar Rahm sagt: „Der Erich Busch war ja eher ein Proletarier.“ Die ehemalige Nachbarin der Buschs, Marianne Eichler, sagt: „Wir haben ihm gesagt: Erich, die Frau ist nichts für dich.“ Sie packe nicht zu. Sie kränkele. Sie sei Städterin. Sie habe schon einen erwachsenen Sohn. Nichts für einen Bauern vom Land mit zwei kleinen Töchtern. Er wollte nicht hören.

Die Ehe dauert knapp zwei Jahre. 1963 zieht Dora Busch, geborene Göring, zurück nach Dresden, wenige Monate nach dem Tod ihres Sohns, dem westlichen „Mordüberfall“, wie das Neue Deutschland titelt. „Deswegen“, sagt die ehemalige Stieftochter heute, „ging das doch auseinander. Die musste doch überall hinfahren, reiste durchs ganze Land, verschwand einfach tagelang.“

Keine Ehrung für den verstorbenen Peter Göring ohne sie, keine Peter-Göring-Straße-Schildaufstellung ohne die Mutter des Helden, keine Brigade, die sich nun um den Namen des Gefallenen bewarb, die sie nicht persönlich dazu beglückwünschte, kein Internationaler Frauentag ohne die obligatorischen Blumen für sie. An Schulen werden „Peter-Göring-Geländestaffelläufe“ durchgeführt, Pioniere für besonders gutes Betragen mit der „Peter-Göring-Urkunde“ ausgezeichnet. Noch heute gibt es in dem brandenburgischen Städtchen Strausberg bei Berlin eine Peter-Göring-Straße, und die Dorfschule im mecklenburgischen Gresse trägt den Namen des getöteten Grenzsoldaten.

Der Friedhof von Glashütte wurde in der DDR zum Wallfahrtsort, der Staat scheute keine Kosten: „Tag der NVA, 01. März: Blumengebinde auf das Grab im Heimatort, 20 DM, Todestag 23. Mai: Niederlegen eines Kranzes mit Schleife auf das Grab im Heimatort, 50 DM, Tag der Republik, 07. Oktober: Blumengebinde auf das Grab, 20 DM, Geburtstag 28. Dezember: Blumengebinde, 20 DM“. Kaum jemand beherrschte die Helden-Inszenierung so perfekt wie die Staatsführung der DDR. „Und Dora Göring“, sagt die Stieftochter, „hat das alles mitgemacht.“ Hat dazu beigetragen, dass das Märchen über den vorbildlichen Soldaten Peter Göring so lange aufrecht erhalten werden konnte. „Als Mörderfreunde“, sagt seine Stiefschwester, „sind doch später wir beschimpft worden, aber da war sie ja schon tot.“ Das nehmen sie ihr im Dorf bis heute übel.

Tatsächlich muss es, folgt man den erhaltenen „Vermerken“, „Aktennotizen“ und Schriftwechseln der Sechzigerjahre, nicht wirklich schwer gewesen sein, Dora Göring zur idealtypischen Heldenmutter ganz nach sozialistischem Geschmack aufzubauen. Weniger, weil sie von sich aus als überzeugte Genossin aufgetreten wäre: Ihr Antrag, in die SED aufgenommen zu werden, wird zunächst von der Parteileitung abgelehnt.

Aber Dora Göring klammert sich an alles, was eine Erklärung für den Tod ihres Sohns bietet: „Sie ist Angehörige der neuapostolischen Glaubensrichtung“, stellt Major Müller, Nationale Volksarmee, Stadtkommandatur Berlin, in einer „Aktennotiz“ vom 26. November 1963 entsetzt fest. „Um sie dem Einfluß anderer Glaubensrichtungen zu entziehen und ihr wirkliche Erholung zu bieten, schlage ich wenn möglich vor, Frau Göring nach Weihnachten für 3 Wochen unentgeltlich in ein Armee-Erholungsheim einzuweisen.“

Sie tat es für ihren Sohn

Mehrfach wird Dora Göring, die ihren Mädchennamen wieder angenommen hat, zu „Kuraufenthalten“ geschickt. Von dort schickt sie an die „Werten Genossen“ Postkarten und Danksagungen in mädchenhafter Schrift, Absenderin: „Mutter Göring“. „Auch sonst sind mir Blumen und Briefe von Brigaden und Pionieren zugeschickt worden, alles Zeichen der Verbundenheit, woraus wieder neue Kraft geschöpft wird.“

Der Kontakt zu Teilen der eigenen Familie ist zu diesem Zeitpunkt schon abgerissen. „Ich kann mich erinnern“, sagt eine ihrer Nichten, „dass es zwischen Dora und ihrer Schwester damals Streit gab: Dora wollte nichts davon wissen, dass sie sich ausnutzen ließ. Sie sagte, sie mache das für ihren Sohn.“ Und dann, berichtet die Nichte, sei Dora Göring „in ihren Äußerungen zunehmend sprunghaft“ und später sehr krank geworden.

Die NVA-Stadtkommandantur Berlin fürchtet um die Verlässlichkeit ihrer Heldin: „Frau Göring leidet an einem zeitweiligen Verfolgungswahn. In Zukunft soll bei Namensverleihungen zum Gedenken an den ermordeten Unteroffizier Peter Göring ein Offizier der Stadtkommandantur oder des Truppenteils anwesend sein, damit bei Fragen über den Mord politisch überzeugende Antworten gegeben werden.“ Dora Göring bestimmt auch nicht mehr, wer den Namen ihres Sohns für seine Zwecke nutzen darf. Per Vollmacht überlässt sie die Entscheidung hierüber dem Stadtkommandanten der Hauptstadt der DDR.

Als sie an Krebs erkrankt, es ist in den Achtzigerjahren, verliert der Staat allmählich das Interesse an seiner Heldenmutter. Sie muss immer wieder ins Krankenhaus, schließlich kommt sie in ein Pflegeheim. Gestorben ist sie am 23. Mai 1992 – auf den Tag genau 30 Jahre nach ihrem Sohn.