Ein Sonntag im August

Mauerbau

„Ich weiß nicht, ob ich die Stadt jemals wieder so gesehen habe wie an diesem Tag. Dabei hätte ich nicht sagen können, woran es lag; es war alles unverändert, diese graue, lange Straße, die stummen, mächtigen Häuser mit ihren bröckligen Fassaden – alles unverändert und doch auf eine schwer fassbare Weise anders, nicht nur weil ich, außer an Staatsfeiertagen, noch nie so viele Menschen auf den Straßen gesehen habe, die eilig und meist in Gruppen in Richtung der Grenze liefen: Ehepaare, fest untergehakt, als könnten sie sich verlieren, ganze Familien, Großeltern, Eltern, Kinder, in den Gesichtern etwas Einendes, allen Gemeinsames, ja es war die gleiche Unabhängigkeit in den Gesichtern der Menschen, die an mir vorbei zur Grenze zogen.“

KLAUS SCHLESINGER, Schriftsteller, 1937 – 2001