Das Leben ist ein Roman

Ficken, spazieren gehen und Lauch essen: Silvia Szymanski liest zusammen mit Martin Brinkmann und Hanno Wulf im Machtclub  ■ Von Roger Behrens

Hamburg verlasse ich nicht. Als ich einmal einige Semester in Maastricht studiert habe, bin ich gependelt, sechs Stunden hin, sechs Stunden zurück, mit der Bahn. Eine Umsteigestation auf der Strecke hieß Herzogenrath; wenn es von hier aus mit dem Pferdewagen weitergegangen wäre, hätte es mich auch nicht gewundert. Es waren aber so gelbe stromlinienförmige Wurstzüge wie aus einem Science Fiction der Fünfziger.

Das dauerte natürlich, bis die kamen. Immer wieder versuchte ich, mir die Wartezeit mit einem kleinen Spaziergang durch Herzogenrath zu vertreiben. Hier, im Ort der Ortlosigkeit, gibt es keine Cafés und keine Sexshops – jedenfalls habe ich keine gefunden. Nach 18 Uhr wird Herzogenrath offenbar komplett abgebaut, bis zum nächsten Drehtag dieser Realitysoap, die zu trostlos ist, um jemals gezeigt zu werden. Bloß zurück nach Hamburg.

Menschen wie Silvia Szymanski sind da neugieriger. Die in Merkstein geborene Autorin ist sogar nach Herzogenrath gezogen, und zwar freiwillig, findet hier das Leben, über das sie schreibt – und letzteres mittlerweile ebenfalls freiwillig, auch wenn es einige Zeit brauchte, bis sie sich traute, ihre Tagebuchaufzeichnungen aus den 80er-Jahren in einen Roman zu verwandeln. Der wurde 1998 unter dem Titel Chemische Reinigung ihr vielbeachtetes Debüt.

In der Abgeschiedenheit von Herzogenrath, „wo die Kreativität ungestümer gedeiht“, hat Silvia Szymanski dann ihre Erzählungen geschrieben und unter dem Titel Kein Sex mit Mike veröffentlicht. In diesem Jahr sind sie noch einmal als Paperback bei Piper erschienen. „Erotische Geschichten“ heißt es vorsichtig warnend. „Derb, deutlich, dabei überhaupt nicht obs-zön“, wird in Pressestimmen beruhigt.

In der taz war sie einmal die „Madame Bovary vom Niederrhein“. Von „Schonungslosigkeit“ ist die Rede, und schnell war Szymanski die „Rocklady“ (Prinz), eingesperrt in Schublade mit der Beschriftung „Popliteratur“. Mit deren Zynismus und gelegentlicher Menschenverachtung, mit deren bohemistischer Großkotzigkeit hat Szymanski allerdings gar nichts zu tun; vielmehr übt sie sich in der Bescheidenheit der Beobachtung dessen, was ohnehin läuft.

Und Szymanski schreibt über Sex, weil die (meisten) anderen es eben nicht können. Sie schreibt über das Ficken, selbst wenn nicht gefickt wird, und erotisiert jedes Wort der ansonsten uns so prüde gewordenen Sprache. Kein Sex mit Mike ist die Bettlektüre, die sich noch im Halbschlaf in die Fantasien des Begehrens einschreibt. Schnell hat man sich in die feuchten Löcher und Samenergüsse der Geschichten verliebt, freut sich über so viel Lust: Lust an der Sprache.

„Wir legen die Zimmer unsrer Münder mit den Türen aneinander, und er kommt nackt mit seiner Zunge zu mir herein. Er tobt bei mir herum, als wäre er zuhaus. Von außen kann man das kaum sehen, wir haben keine Fenster in den Ba-cken.“ Wann hat es in der Literatur das letzte Mal so eine Beschreibung von einem Kuss gegeben? Bei den Surrealisten vielleicht. Mit denen hat Szymanski im Übrigen einiges gemeinsam, vor allem, wenn ihre Worte von den Geschlechtsteilen zu den sozialen Zuständen wandern. Fuck the Realitätsprinzip, steht überall zwischen den Zeilen, und doch ist Szymanskis Kunst keine andere, als die Realität zum Prinzip ihrer Literatur zu erheben.

„Ich klopfe die Dinge nach Bedeutung ab. Und manchmal kommt was dabei raus wie bei einem Automaten.“ In ihrem neuen Roman, Agnes Sobierajski, verschmilzt die fragmentierte Welt der kleinen A-nekdoten aus Kein Sex mit Mike zu einer Einheit, zu einer Biografie. Agnes Sobierajski ist Babysitterin und verliebt sich in Mustafa. Alles in Herzogenrath. Den Kindern erklärt sie gerne die Welt, wie sie ist und eigentlich nicht sein sollte, oder wie sie sein könnte: „Ich könnte die Schlampe dieses Cafés werden. Die Männer würden ihren Samen auf meinen Körper spritzen, ...“ Ich würde nach wie vor schwören, dass es dieses Café in Herzogenrath nicht gibt.

Was es aber gibt, sind feine Wahrheiten, die Silvia Szymanski so großartig formulieren kann: „Die Uhr tickt. Man hört das komischerweise vor allem dann, wenn die Zeit stillzustehen scheint.“ In solchen Sätzen steckt nämlich der Sex, das Obszöne, das Vulgäre und Pornografische. „Alles hinnehmen, mitmachen, nichts verurteilen ... Die Seele dehnen und geschmeidig halten, probeweise alles aufgeben. Das ist ein schwerer Akt, wenn man nicht weiß, ob Gott wohl wirklich da ist und ein Netz aufspannt. Vielleicht ist es richtig, sehr viel Vertrauen zu haben. Sicher ein gutes Training für den Tod.“ Den Satz habe ich mir jetzt abgeschrieben und an die Nachttischlampe geklebt. Nächsten Dienstag möchte ich ihn gerne noch einmal vorgelesen bekommen von Silvia Szymanski, die dann zusammen mit Martin Brinkmann und Hanno Wulf den elften Machtclub im Mojo bestreiten wird.

Der Bremer Martin Brinkmann wird im Programm als „Spaziergänger“ vorgestellt. Es geht um das Flanieren im Leben zwischen den Leben, „zwischen dem Ende der Jugend und einer Zukunft, die ständig näher kommt und eigentlich schon lange da ist.“ Der in Hamburg wohnende Hanno Wulf, heißt es, „isst gerne, und in letzter Zeit irgendwie besonders gerne Dinge mit Lauch.“ Merkwürdige literarische Obsessionen.

Der Verleger Sven Amtsberg und Tina Uebel, die durch den Abend im Mojo Club führen werden, empfehlen zum Ausklang einen schönen Spaziergang. Ob Szymanski da mitmacht? Sie hält – womit sie ihre Wohnortwahl im psychogeografischen Abseits begründet – Metropolen wie Hamburg für „ausgelaugt“, jedenfalls, was literarische Inspiration angeht. Aber auch und gerade Hamburg hat ja seinen Kleinstadtmuff, seine Nischen, seine gute Stube und seine überwältigende Trostlosigkeit.

Vielleicht kommt Szymanski ja doch mit: „Das Leben ist halt kein Roman! sagt mancher. Aber das Leben ist doch ein Roman, und zwar ein guter. Man ist nur ein Banause! Man würdigt gar nicht recht, was läuft!“

Machtclub: Dienstag, 21 Uhr, Mojo Club

Silvia Szy-manski, Agnes Sobierajski, Hoffmann und Campe, Hamburg 2000, 29,90 Mark

Silvia Szymanski, Kein Sex mit Mike, Hoffmann und Campe, Hamburg 1999, 24 Mark (Piper, München und Zürich 2001, 15,90 Mark)

Silvia Szymanski, Chemische Reinigung, Reklam, Leipzig 1998, derzeit vergriffen