KROATIEN: DIE VERBRECHEN MÜSSEN AUCH DORT AUFGEARBEITET WERDEN
: Jenseits von Den Haag

Die Koalition in Kroatien mag zerstritten sein und bald auseinander fallen – mit dem UN-Tribunal über die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien in Den Haag arbeitet sie zusammen. Das ist ein gutes Zeichen. Denn der Wunsch, in Europa anzukommen und irgendwann in die EU aufgenommen zu werden, wiegt nicht nur bei den Abgeordneten, sondern auch im Volke schwerer als die Argumente der oppositionellen Rechtsparteien.

Wer heute die Auslieferung von mutmaßlichen Kriegsverbrechern als eine nationale Schande bezeichnet, mag zwar die Gefühle all jener ansprechen, die aktiv am Krieg 1991–95 teilgenommen haben, doch die meisten Kroaten sind damit nicht mehr zu beeindrucken. Sie wollen ein besseres Leben und sich leisten können, was in der internationalen Werbung angeboten wird. Der Wunsch nach Konsum hat gegen die „nationale Ehre“ gewonnen.

Dieser Umstand wirft jedoch auch die Frage auf: Lässt sich so das Gift, das der Krieg in der Gesellschaft hinterlassen hat, auch aussaugen? Das ist zu bezweifeln. Sicherlich, ein Teil der Wahrheit über die Kriegsverbrechen wird über die Prozesse in Den Haag auch an die kroatische Öffentlichkeit zurückvermittelt. Und es wird den nationalen Kreisen schwerer fallen, die Verbrechen der Kriegsgegner zu verurteilen, die eigenen Verbrechen aber zu leugnen. Die Propaganda von damals kann dank der Prozesse von Den Haag nicht mehr als Selbstrechtfertigung dienen. Mit Den Haag wird endlich auch die individuelle Verantwortung beurteilt. Dies ist ein Fortschritt, auch wenn er von außen erzwungen wird.

Dennoch bleibt ein Rest Unbehagen. Denn die Individualisierung der Schuld, so notwendig sie unter rechtsstaatlichen Bedingungen ist, wird auf alle anderen entlastend wirken: Wenn die Prozesse in Den Haag wie die Rennen der Formel 1 „konsumiert“ werden, braucht sich niemand mehr die Frage zu stellen, warum er damals die Politik der nationalen Hysterie unterstützt hat. So liegt es an den konsumkritischeren Intellektuellen, die gesellschaftliche Diskussion über Schuld und Sühne fortzusetzen. ERICH RATHFELDER