Die unvermeidliche Zerstörung eines staatlichen Experiments

Am 25. Juni jährt sich zum zehnten Mal die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens. Markiert erst dieser Zeitpunkt das Ende Jugoslawiens? Oder gab es schon Jahre zuvor Indizien für das Scheitern des so genannten Dritten Wegs?

von HEIKO HÄNSEL

In der Europäischen Union ist es üblich geworden, den Zerfall Jugoslawiens und die nachfolgenden Kriege als synchrone Vorgänge zu sehen. Dies beruht vor allem auf der Tatsache, dass die westliche Öffentlichkeit erst seit dem 25. Juni 1991, als die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien ihre staatliche Unabhängigkeit erklärten, den Konflikt in seiner tatsächlichen Dimension wahrnahm. Die ausländischen Vermittler, allen voran die Außenminister von Luxemburg, Italien und den Niederlanden, glaubten noch am 27. Juni – als die Jugoslawische Volksarmee in Slowenien gewaltsam versuchte, die abtrünnige Teilrepublik an der Sezession zu hindern – Jugoslawien erhalten zu können.

Nach zehn Jahren ist an der Macht des Faktischen nicht mehr zu rütteln: Der 25. Juni 1991 hat das klassische, 1945 von den Titopartisanen gegründete Jugoslawien zerstört. Die Soziologin Vesna Pešić, einst Vorsitzende des oppositionellen Bürgerbündnisses Serbiens, hat bereits Anfang der Neunzigerjahre vehement darauf beharrt, dass der Staatszerfall und die nachfolgenden Kriege unterschiedliche Prozesse darstellen. Das Schicksal der Sowjetunion und das der Tschechoslowakei zeigten, dass auch für Jugoslawien ein friedlicher Zerfall möglich gewesen wäre. Die Ursachen von Zusammenbruch und Krieg seien eben nicht deckungsgleich.

Zahlreiche neuere zeithistorische Forschungen unterstützen diese Sichtweise. Die Ursachen des Untergangs Jugoslawiens seien keineswegs in der Umsetzung der Kriegsstrategien von Slobodan Milošević zu suchen. Der Zusammenbruch der staatlichen Strukturen schuf überhaupt erst die Voraussetzung für den Ausbruch der Kriege.

Wer von heute aus auf die letzten Jahre der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien blickt, stellt fest, dass deren gesamte staatliche Ordnung in fundamentalen Bereichen untergraben, ja nicht mehr existent war. Offensichtlich wurde das erstmals Ende 1988. Serbiens Führung unter Milošević jagte in einem stalinistischen Rollback die Führungen der autonomen Provinzen Wojwodina und Kosovo aus dem Amt.

Belgrad schraubte deren verfassungsrechtlich autonomen Status auf ein Minimum zurück – was einer Änderung der Bundesverfassung und der Zustimmung aller anderen Republiken bedurft hätte. Milošević zog außerdem die Führung Montenegros auf seine Seite. Das empfindliche System der Balance von acht föderalen Einheiten, von denen Serbien nun vier kontrollierte, hatte damit den Todesstoß erhalten.

Im Gegenzug nahm Slowenien im September 1989 das Recht auf Sezession in seine Verfassung auf. Dies war in der Rechtswissenschaft im In- und Ausland ein höchst umstrittener Akt, da ein gewichtiger Teil der Juristen der Meinung war, das Selbstbestimmungsrecht der jugoslawischen Völker sei mit der Gründung des sozialistischen Jugoslawien 1945 „konsumiert“ worden. Ein Austritt aus der Förderation wäre demnach nicht mehr möglich gewesen. Die slowenische Führung pochte jedoch auf die Unvergänglichkeit dieses Rechtes. 1989 war dies ein rein akademischer Streit, der noch nicht ums Ganze ging. Was blieb, war allseitige Irritation aufgrund der slowenischen Position.

Davon unabhängig war bereits 1990 der gesamtjugoslawische Wirtschafts- und Finanzraum in hohem Maße desintegriert. Keine der Republiken zahlte im Lauf des Jahres mehr Geld in das Bundesbudget ein. Slowenien und Serbien lieferten sich seit Januar 1990 einen furiosen Wirtschaftskrieg mit Waren- und Firmenboykott. Serbien begann ohne Absprache mit der jugoslawischen Nationalbank mehrere hundert Millionen Dinar zu drucken und damit die Inflation anzuheizen.

Weitere Beispiele ließen sich anführen. Die Gründe für die jugoslawische Fundamentalkrise liegen freilich tiefer als in der fehlgeleiteten demokratischen Transformation Jugoslawiens, einer Transformation, wie sie die anderen sozialistischen Länder nach 1989 – mit Erfolg – begannen. Bei der Beurteilung der Ursachen haben sich inzwischen zwei grundsätzliche Ansätze herausgebildet. Der erste betont die Systemimmanenz der Ursachen des Staatszerfalls, insbesondere die Inkonsequenzen des jugoslawischen Selbstverwaltungsmodells. Der zweite hingegen stellt die nationale Frage in den Mittelpunkt.

Die „Systemiker“ gehen von dem enormen ökonomischen Entwicklungsgefälle zwischen Nord und Süd innerhalb Jugoslawiens aus, das historisch gewachsen war und von den Kommunisten nicht überwunden werden konnte. Slowenien war ein Hochindustrieland, während Teile Makedoniens und des Kosovo auf dem Niveau landwirtschaftlicher Selbstversorgung verharrten. Die daraus resultierenden „objektiv“ entgegengesetzten Wirtschaftsinteressen wurden im Rahmen des föderalen Systems aggressiv ausgetragen.

In den Achtzigerjahren, als die ökonomische Ineffizienz des jugoslawischen Sozialismus offenkundig wurde, radikalisierten diese Interessengegensätze der Republiken. Jugoslawien war zum Terrain eines „Wirtschaftsnationalismus“ (so der Jenaer Historiker Stefan Plaggenborg) geworden – als ob in Deutschland plötzlich Bayern anfinge, mit allen Mitteln des ökonomischen Terrors Mecklenburg-Vorpommern zu bekämpfen.

Von den Vertretern der ethnonationalen Erklärungsweise bekommen die „Systemiker“ allerdings vorgehalten, dass ihr ökonomischer Blickwinkel zu kurzfristig angelegt sei. Ein Blick zurück auf das 19. Jahrhundert soll dies belegen. Damals konkurrierten zwei unterschiedliche Nationsbildungsprozesse im jugoslawischen Raum: der der jeweiligen Einzelnationalismen (Slowenen, Kroaten, Serben) und der einer jugoslawischen Nation. Beide bildeten sich auf der Grundlage des ethnischen Modells der Abstammungsgemeinschaft heraus, ähneln also der aus der deutschen Geschichte bekannten Nationsideologie von Blut und Boden.

Die jugoslawische Idee von einer Nation scheiterte jedoch. Ihr Scheitern ist das Musterbeispiel dafür, dass sich Nationen nicht beliebig konstruieren lassen. Erstens waren die potenziellen „Jugoslawen“ kulturell, wirtschaftlich, sozial und religiös sehr unterschiedlich. Zweitens fanden die Nationalbewegungen in unterschiedlichen Rahmen statt.

Die Serben verfügten nach der Abspaltung vom Osmanischen Reich seit 1830 gleich über zwei Nationalstaaten, die Fürstentümer Montenegro und Serbien – die Südslawen in der Habsburgermonarchie aber über gar keinen. Dies waren zwar schwierige Bedingungen, aber noch lange keine unüberwindlichen Hindernisse für eine nationale Integration.

Einmütig votierten die Führungen der Völker am Ende des Ersten Weltkrieges für einen gemeinsamen jugoslawischen Staat. Doch die Staatsgründung führte nicht zu einem Staat einer Nation. Slowenen und Kroaten strebten einen föderalen Staat an, der bei aller Gemeinsamkeit die Unterschiede in den Traditionen und Kulturen anerkannte.

Gegen ihren Willen setzte die serbische politische Klasse jedoch ein rigides Zentralstaatskonzept durch. Alles an dem neuen Staat schien serbisch: die königliche Dynastie, die Hauptstadt, die Armee, die Verwaltung – und etwa auch die Nation? Zwischen „jugoslawisch“ und „serbisch“ stand plötzlich ein Gleichheitszeichen.

Der Höhepunkt dieses Versuches, eine jugoslawische Nation mit aller Staatsgewalt herzustellen, war die Errichtung der Königsdiktatur 1929 durch König Alexander. Aus Protest radikalisierten sich Teile der Einzelnationalbewegungen gegen diese Zumutung. König Alexander wurde 1934 von kroatischen und makedonischen Nationalisten ermordet.

Der nationale Ausgleich, insbesondere zwischen Serben und Kroaten, den seine Nachfolger suchten, hatte keinen Erfolg. Als die deutsche Wehrmacht 1941 das uneinige Jugoslawien überfiel, hatte sie leichtes Spiel. Slowenen, Kroaten und Makedonier weinten dem gemeinsamen Staat keine Träne nach. Aber sie kamen vom Regen in die Traufe. Hitlers „Neuordnung“ Jugoslawiens ließ den Einzelnationalismen in ihren extremsten Spielarten freien Lauf.

Die 1941 einsetzenden Massenmorde der kroatischen Ustaša-Bewegung an den Serben und weitere „ethnische Säuberungen“ begruben die letzten Überbleibsel einer gemeinsamen nationalen jugoslawischen Identität.

Die Anhänger des Modells eines Ethnonationalismus haben starke Argumente auf ihrer Seite. Sie können unumstößlich formulieren: Kein moderner europäischer Staat ohne nationale Ideologie und Integration, kein Jugoslawien ohne Jugoslawen. Demnach hätte es, wenn der „Jugoslawismus“ 1945 tot war, keine Wiedererrichtung Jugoslawiens geben können.

Wie bekannt erneuerten die Titopartisanen den jugoslawischen Staat trotzdem – unter vorbehaltloser Anerkennung aller Einzelnationalismen. Damit hielt man die nationalen Fragen für ein für alle Mal gelöst. Dies geschah zunächst aus reinem Machtopportunismus. Ziel war die Verwirklichung der sozialistischen Utopie, weniger ein multinationales Staatswesen.

1948, als sich Tito in einer dramatischen Auseinandersetzung vom sowjetischen Entwicklungsweg abkoppelte, eröffneten sich den jugoslawischen Kommunisten Möglichkeiten, von denen viele moskauabhängige Kommunisten in Ostmitteleuropa nur träumen konnten. Die Neuinterpretation von Marx und Lenin führte sie zu einer undogmatischeren Ideologie. Favorisiert wurde gesellschaftliches, nicht staatliches Eigentum an den Produktionsmitteln, die Selbstverwaltung der Betriebe begünstigt, außenpolitisch galt das Prinzip der Blockfreiheit. Auch wenn das Machtmonopol der Partei bis 1990 nie in Frage gestellt wurde: Lange sah man im „Titoismus“ – auch bei westeuropäischen Linken – den so genannten Dritten Weg für die zukunftsfähige Alternative, jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus.

Dieser Dritte Weg war politisch-ideologisch nie besonders präzise gefasst und besonders ungenau auf dem Gebiet der nationalen Frage. Zunächst begriff man das jugoslawische Kollektiv als eine „sozialistische Gemeinschaft aller Werktätigen“, eine Art Vorstufe zum Verschwinden der „bürgerlichen Kategorie der Nation“ nach der Weltrevolution.

Diese Definition war in der Partei jedoch heftig umstritten und – die Weltrevolution blieb ja aus – beständigen ideologischen Angriffen ausgesetzt. Insbesondere gingen die einzelnen Parteiführungen der Republiken dagegen vor. Sie sahen sich als Verteidiger ihrer gerade erst offiziell anerkannten Einzelnationen, die durch das verschmelzende Jugoslawentum in Frage stellt wurden.

Dass die kommunistische Führung unter Tito die aktive Forcierung des Jugoslawismus 1963 aufgab, wird als entscheidende Weichenstellung für den späteren Staatszerfall angesehen, so Andrew B. Wachtel, Literaturwissenschaftler aus den USA. Heute, nach zwanzig Jahren Nationalismus- und Ethnizitätsforschung, glaubt man zu wissen, wie entscheidend solch eine konsequente staatliche Identitätspolitik ist. Denn dieses sozialistische Jugoslawentum hätte als Vorläufer für eine moderne jugoslawische Staatsidentität und damit als Rettungsanker Jugoslawiens dienen können. Jugoslawe hätte demnach jeder Bürger sein sollen, bei gleichzeitiger Beibehaltung des ethnischen Sonderselbstverständnisses.

Dessen ungeachtet stellte sich in Jugoslawien seit den Siebzigerjahren ein soziologisches Paradox ein, das auf die beginnende spontane Ausbildung solcher Doppelidentitäten verweist. Eine wachsende Minderheit von Menschen bezeichnete sich bei den Volkszählungen als „Jugoslawe“: 1971 waren es 273.000 Menschen (1,3 Prozent der Bevölkerung), zehn Jahre später 1,2 Millionen (5,4 Prozent).

Mit dem Potenzial dieser jugoslawischen Doppelidentitäten beschäftigte sich jüngst ein Forschungsprojekt der Volkswagenstiftung unter den Historikern Wolfgang Höpken und Holm Sundhaussen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sich bereits heute, zehn Jahre nach dem Staatszerfall, jenes komplizierte Verhältnis zwischen Jugoslawentum einerseits und nationalem Bekenntnis andererseits nicht mehr vollständig rekonstruieren lässt.

Fest steht nur: Die Transformation in eine überformende jugoslawische Staatsideologie fand nicht statt. Die Vertreter nationaler Exklusivität, die Ende der Achtzigerjahre das Ruder übernahmen, zerstörten die zarten Ansätze dafür und stellten das Jugoslawentum als Anachronismus und als mit dem nationalen Bekenntnis unvereinbar dar.

An einem Punkt treffen sich das „systemische“ und das „ethnonationalistische“ Erklärungsmodell. Für beide war der Bestand Jugoslawiens in einem hohem Maß an den sozialistischen Gesellschaftsentwurf geknüpft. Damit soll nicht die historische Notwendigkeit des Untergangs Jugoslawiens nach dem Ende des Sozialismus festgestellt werden. Jugoslawien war weder eine „künstliche Schöpfung“ noch ein „unmögliches Land“.

Aber die Chancen für seinen Erhalt standen am Ende der totalen Gesellschafts- und Staatskrise 1991 mehr als schlecht. Die postjugoslawischen, neuen wie alten Politiker haben nicht versagt, weil sie Jugoslawien nicht erhalten konnten, sondern weil sie sich als unfähig und unwillig erwiesen, sich über eine friedliche Auflösung des gescheiterten Experiments zu verständigen. Für einen neuen Versuch fehlt es an Interessierten.

HEIKO HÄNSEL, 29, freier Autor und Historiker, lebt in Berlin. Zusammen mit Holm Sundhaussen ist er Herausgeber des Bandes „Konfliktregionen Südosteuropas im Zeitalter des Nationalismus“, Arbeitshefte des Osteuropa-Instituts der FU Berlin, Nummer 3 und 4/2001