Dunkle Vergangenheit

Über 50 Jahre mussten vergehen, bis die erste vollständige Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses vorgelegt wurde. Lange Zeit wollte die deutsche Ärzteschaft nichts davon wissen. Erst die Spenden von 8.000 Ärzten ermöglichten das Projekt

von BERND SIEGLER

Die Entstehungsgeschichte ist so ungewöhnlich wie das Projekt selbst. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Nürnberger Ärzteprozess liegt das vollständige Prozessmaterial in Deutsch und Englisch als Mikrofiche-Edition vor. Finanziert haben dieses Projekt die deutschen Ärzte selbst. Nachdem die Bundesärztekammer eine direkte Förderung abgelehnt hatte, schrieb der Psychiatrieprofessor Klaus Dörner zwischen 1994 und 1998 alle 350.000 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland persönlich an. Er bat sie, mit einer Spende eine vollständige Dokumentation der Taten ihrer Vorgänger zu ermöglichen.

Das Ergebnis hat Dörner „sehr positiv überrascht“: 7.912 Ärzte haben insgesamt knapp 1,5 Millionen Mark eingezahlt. „Das ist ein klarer Beweis dafür, dass in der deutschen Ärzteschaft ein Umdenken stattgefunden hat und sich die Ärzte ihrer Vergangenheit stellen wollen“, betonte Dörner bei der Vorstellung der Edition am Rande des Kongresses „Medizin und Gewissen“ der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung“ (IPPNW) in Erlangen.

Die Bereitschaft der Ärzte sich mit der wohl dunkelsten Epoche ihres Berufstandes auseinander zu setzen war nicht immer gegeben – eher das Gegenteil war der Fall. Am 9. Dezember 1946 begann in Nürnberg der Ärzteprozess. 23 Ärzte und NS-Gesundheitsfunktionäre mussten sich wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Im Mittelpunkt standen das Euthanasie-Programm der Nazis und die grausamen Versuche zumeist mit KZ-Häftlingen, begangen im Namen der medizinischen Wissenschaft. Nach 143 Verhandlungstagen, am 20. August 1947, verkündete das amerikanische Gericht das Urteil: Sieben Angeklagte wurden freigesprochen, neun zu langen Haftstrafen verurteilt und sieben zum Tode.

Die westdeutsche Ärztekammer entsandte eigens eine von Alexander Mitscherlich geleitete Beobachterkommission nach Nürnberg – beäugte jedoch ihr Tun von Anfang an mit Misstrauen. Die Ärzteschaft fürchtete als Kollektiv verurteilt zu werden. Noch vor Prozessbeginn gab die Freiburger medizinische Fakultät die Marschroute aus, es müsste „ganz energisch klargelegt“ werden, „daß doch nur eine ganz beschränkte nationalsozialistische Clique sich hier die Finger verbrannt hat, und daß vielmehr der deutsche Arzt im allgemeinen ebenso wie der deutsche Wissenschaftler nicht das geringste mit diesen Scheußlichkeiten zu tun hat“.

Mitscherlichs Kommission hielt sich an diese Vorgaben nicht. Keines der medizinischen Fachblätter druckte daraufhin die Berichte. Mitscherlich und seine Mitstreiter wurden als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und von Ärzten, die in der NS-Zeit kein Hehl aus ihrer Sympathie zu den Machthabern gemacht hatten, mit Prozessen überzogen.

Die wenigen Exemplare, die von Mitscherlichs 1949 herausgegebener Dokumentation „Medizin ohne Menschlichkeit“ verbreitet worden waren, blieben ohne jede Resonanz. „Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen wäre“, klagte Mitscherlich. Während die deutsche Ärzteschaft Mitscherlichs Dokumentation einfach nicht wahrnehmen wollte, verhalf der Bericht andererseits den in Verruf gekommen deutschen Medizinern wieder zu internationaler Anerkennung. Mitscherlichs Arbeit trug entscheidend dazu bei, dass 1951 die Standesorganisation der deutschen Ärzte wieder in den Weltärztebund aufgenommen wurde.

1961 wurde Mitscherlichs Buch zwar neu aufgelegt, doch als Grundlage für die seit den 80er-Jahren auch in der Ärzteschaft intensiv geführten Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit reichte seine Auswahldokumentation nicht aus. So kam Dörner auf die Idee, die auf verschiedenste Bibliotheken und Archive verstreuten Kopien des Prozessmaterials zusammenzusuchen, in einem Forschungsprojekt aufarbeiten zu lassen und zu veröffentlichen.

„Wir haben die ungeheure Menge von Material durch verschiedene Register und Findhilfsmittel erschlossen“, betont Angelika Ebbinghaus von der ehemals in Hamburg und jetzt in Bremen ansässigen Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, die mit dem Forschungsvorhaben beauftragt wurde. Allein die vollständigen Wortprotokolle des Prozesses umfassen 11.700 Seiten, das Material der Anklage 8.000 und das der Verteidigung noch einmal 9.700 Seiten. Darüber hinaus bietet die Mikrofiche-Edition auf 3.000 Seiten Dokumente und Materialien zu den Hintergründen und Auswirkungen des Nürnberger Ärzteprozesses. Der gedruckte Begleitband enthält neben 545 Kurzbiografien und Zeugenlisten das Personen-, Institutionen-, Firmen-, Sach- und geografische Register.

„Das Material ist von ungeheurem Wert, nicht nur für die Entschlüsselung der Vergangenheit, sondern für die Frage, in welche Richtung wir uns in der Medizin ethisch weiter entwickeln wollen“, argumentiert Dörner. Es biete „spannende Querbezüge“ zu der aktuellen Debatte über die ärztlich gestützte Euthanasie in den Niederlanden und der Diskussion über Embryonenforschung und Humangenetik. Um einen Teil der Ergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, haben Ebbinghaus und Dörner die Zusammenfassung „Vernichten und Heilen – Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen“ herausgegeben.

Neben der Erstellung der Prozessdokumentation hat die Spendensammlung von Dörner noch etwas bewirkt: Den Überschuss aus den Geldern in Höhe von 75.000 Mark erhielt der „Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten“. Damit konnten bestehende Gesprächskreise der Betroffenen erhalten und neue geschaffen werden.

„Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/1947. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld“, Mikrofiche-Edition, K.G. Saur Verlag, München, 1999ff, 4.800 Mark.Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner: „Vernichten und Heilen – der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen“, Aufbau-Verlag, Berlin, 2000, 675 Seiten, 68 Mark.