Einsam in Freiburg

Was alles passieren kann, wenn Mütter „Dolce Vita“ sagen. Annette Pehnts Romandebüt erzählt von einem Helden aus der Provinz. Außerdem gibt es in „Ich muß los“ eine zur Rettung unfähige Liebe

von KATHARINA BORN

Die Wahrheit hören die Leute nicht gerne. Das lernt Dorst früh. Taktlos sei er und mit wenig Gefühl für andere, schreibt eine Lehrerin im Brief an die Mutter. Die Wahrheit, künftig verschwiegen, bleibt als Knacken in seinem Kiefergelenk zurück. „Wenn du lügst, wackelt deine Nase, hatte die Mutter früher immer gesagt. Deswegen drehte er sich unauffällig zur Seite.“

Die Hauptfigur von Annette Pehnts erstem Roman „Ich muß los“ ist nicht gerade sympathisch. Über die ersten Seiten weckt das Kind, der Jugendliche, der erwachsene Dorst Erinnerungen: Ist der nicht so wie dieser Dünne, der in der Grundschule hinten links saß und mit dem niemand etwas anzufangen wusste? Hat nicht damals Martin, der Kauzige aus dem Nachbarort, genauso einsam mit dem Fahrrad seine Runden gedreht, egal was wir anderen darüber dachten? Gut, dass ich mit Erik nichts mehr zu tun habe. Der dachte auch immer, er müsse irgendwohin, wenn es gerade gemütlich wurde. Aber wie ein ungeliebter alter Bekannter wächst einem Dorst unmerklich ans Herz. In seiner Bemacktheit ähnelt er vielleicht auch einem selbst, denkt man dann, wie man sich als Kind erlebt: ungeschickt und oft seltsam fremd gegenüber den anderen, aber immer unabänderlich in sich gefangen.

Das Romandebüt der Freiburgerin Annette Pehnt, die bislang einige Kurzgeschichten und eine kleine Monographie über John Steinbeck veröffentlicht hat, handelt von Menschen, die noch Pluderhosen tragen und Lehrerin sind, von Frauenträumen über ein süßes Leben und von einer Kleinstadt-Kindheit, die früh lehrt, dass Wünsche selten wahr werden und dass Einsamkeit unabänderlich versteinert.

Die Fantasie und Egozentrik des Helden wirken stark im Kontrast zur Umgebung einer touristischen Stadt wie Freiburg, voller Sehenswürdigkeiten der Alltäglichkeit. Es geht um die deutsche Provinz, um Bürgerliches und wenig Verschrobenes. Zweimal nur bricht der Held aus. Einmal, im Urlaub in Tunesien, mit dem neuen Freund der Mutter: „Herr Quoirin aß immer Ei. Die Mutter bestellte Granatäpfel und Melonen und sagte Dolce Vita.“ Dann mit dem Freund auf einer Fahrradtour im permanenten Sommerregen. Zuletzt, als er in einem feuchten Tunnel übernachtet, bis er es vor Kälte und Gestank nicht mehr aushält.

„Ich muß los“ ist ein Entwicklungsroman. Aus drei verschiedenen Phasen seines Lebens erzählt die 1967 geborene Kritikerin und freie Autorin in Rück- und Vorblenden, ganz ohne Anführungsstriche, die Geschichte des seltsamen Kerls, der sich siebenjährig wünscht, der todkranke Vater möge das Gästezimmer räumen, damit seine geliebte Tante Lollo zu Besuch käme. Der später seiner Mutter vorlügt, er habe sich mit dem Nachbarjungen Gregor getroffen, den er letztlich als Freund akzeptiert, ohne ihm tatsächlich nahe zu kommen. Der als unmotivierter Student Stadtführungen voll mutig ausgedachter Geschichten veranstaltet, aber jedes Mal kneift, wenn er eigentlich seiner Freundin Zuneigung beweisen wollte. Der nichts zu Ende bringt, aber immer rastlos ist.

Dann trifft Dorst Elner, die er liebt und von der er sich lieben lässt, bis sie die Geduld mit seinen Macken und Egotrips verliert und er den Mut, bei ihr zu bleiben. Mit knappem Text schildert Annette Pehnt die Stationen einer letztlich doch nicht zur Rettung fähigen Liebe. Beim ersten gemeinsamen Frühstück reichen sie sich Zeitungsteile und löffeln Ei. „Dorst sah zu Elner und streckte die Füße unterm Tisch aus. Dolce Vita, sagte Elner.“ Eine Weile lang geht es noch gut. „Nur mit der Ruhe“, beschwört sich Dorst und wartet darauf, dass Elner ihn küsst.

Dorst sagt am Ende immer noch lieber die Wahrheit, die er ohne Schnörkel erkennt. Seine Wahrheit, die auf Elners Frage, wie sie mit ihm zurechtkommen solle, „gar nicht“ antwortet. Dem vierjährigen Ruben, der irgendwann im Roman auftaucht, kann Dorst als Jugendlicher nicht helfen aus seiner Einsamkeit. Aber am Ende findet der erwachsene Dorst heraus, dass sich ein Einsamer einem anderen doch nahe fühlen kann und dass Kindheit so bunt sein kann wie eine Badewanne voller Bonbons.

Annette Pehnt. „Ich muß los“. Piper Verlag, München 2001, 124 Seiten, 29,90 DM