In einem goldenen Land

Eine generationsübergreifende Familiensaga aus Birma, die sich wie ein Geschichtsbuch über das britische Kolonialreich liest: Amitav Ghoshs breit angelegter und genau recherchierter historischer Roman „Der Glaspalast“

Fünf Jahre lang war der bengalische Erfolgsautor Amitav Ghosh für seinen Roman „Der Glaspalast“ in Indien, Malaysia, Singapur und Birma unterwegs, um über süd- und südostasiatische Kolonialgeschichte zu forschen. Diese äußerst privilegierten Arbeitsbedingungen haben sich bezahlt gemacht.

Ghosh hat aus der enormen Stofffülle einen virtuos erzählten Roman über die im Westen so gut wie unbekannte, dennoch höchst dramatische Geschichte Birmas verfasst. Diese Tatsache ist mindestens genauso verblüffend wie die Kultur jenes südostasiatischen Landes, das nicht nur seiner unzähligen Pagodendächer wegen im wörtlichen und metaphorischen Sinn das „goldene Land“ genannt wird.

„Der Glaspalast“ beginnt im Jahr 1885, als die Engländer vom Süden des Landes her die nordbirmesische Stadt Mandalay erobern und die Königsfamilie ins indische Exil verbannen. Auf dem Weg zum Schiff, das die Familie und den verbliebenen Hofstaat außer Landes bringt, erblickt der indische Waisenjunge Rajkumar die wunderhübsche Kinderfrau der Prinzessinnen – Dolly – und verliebt sich auf der Stelle unsterblich. Die von zahlreichen Zufällen auf der Odyssee des Lebens vorausbestimmte Wiederbegegnung der beiden, die natürlich in einer Ehe mit Kindern und Kindeskindern gipfelt, zieht sich als roter Faden durch den Roman.

Es ist eine generationsübergreifende Saga, bei der die zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren auf Fluchten vor Krieg, Pogromen, Armut beziehungsweise auf der Suche nach Geld, Arbeit und Erfolg von Birma aus zu den entlegensten Städten und Regionen des britischen Kolonialreichs verschlagen werden. In schnellem Tempo gelangt man beim Lesen aus dem verschlafenen Mandalay zu den wilden Teakholzverladestationen im Dschungel, vom überfüllten Victoria Terminal in Bombay in eine einsame Luxusvilla auf eine Kautschukplantage nach Malaysia.

Gewiss müssen die einzelnen Personen des Romans relativ konventionelle Rollen spielen, schon allein damit man als Leser den Überblick nicht verliert. Es sind folglich weniger die inneren Konflikte, die die Protagonisten in dramatische Situationen bringen; das erledigt vielmehr die Zeit, in der sie leben.

In Birma, wo sich während des Zweiten Weltkriegs Japaner und Briten einige der furchtbarsten Gemetzel jener Jahre lieferten, war fast die gesamte koloniale Elite vor eine äußerst komplizierte Entscheidung gestellt. Sollte man aufseiten der verhassten britischen Kolonialherren gegen den drohenden Faschismus kämpfen? Oder konnte man den Japanern trauen, die damals nicht nur den burmesischen Freiheitskämpfern versprachen, das Land als asiatische Brudernation in eine unabhängige Zukunft zu führen?

Ghosh lässt stellvertretend die beiden Söhne von Dolly und Rajkumar quasi gegeneinander kämpfen. Der Ältere stirbt, von Gewissenskonflikten gepeinigt, im Dschungel. Der Jüngere überlebt als Fotograf, der sogar noch als klappriger Greis in seinem Ranguner Fotostudio gegen das gegenwärtige Militärregime aufbegehrt.

„Der Glaspalast“ ist ein echtes Geschichtsbuch, dem man jedoch keinerlei pädagogische Absichten anmerkt. Wahrscheinlich ist das der Tatsache zu verdanken, dass Ghosh in diesem Roman – wiewohl nur indirekt – die Lebensgeschichte seines Vaters rekonstruiert. Shailandra Chandra Ghosh kämpfte als Oberstleutnant aufseiten der britisch-indischen Armee in Birma.

Die bewegende Geschichte und Gegenwart jenes exotischen Landes ist nicht nur im Westen, sondern auch im benachbarten Indien relativ unbekannt. In dieser Hinsicht hat die Selbstabschottung der birmesischen Militärjunta Großes geleistet. Das einzig Gute an dieser bis heute andauernden Isolation mag sein, dass man bei der näheren Beschäftigung mit Birma irgendwie aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Genau diesen Effekt hat Ghosh sich im „Glaspalast“ zunutze gemacht.

DOROTHEE WENNER

Amitav Ghosh: „Der Glaspalast“. Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld und Sabine Maier-Längsfeld. Karl Blessing Verlag, München 2001. 608 Seiten, 49 DM