schwarze taz
: Guillermo Arriaga beschreibt, wie viele Lügen die eine Wahrheit produzieren

Das tote Mädchen von Loma Grande

Irgendwo in Mexiko liegt ein rückständiges Dorf namens Loma Grande. Die Leute leben gemächlich vor sich hin, arbeiten ein bisschen, trinken viel, betrügen sich ab und zu und sind Meister der diplomatischen Lüge. Und was eine einzige Lüge anrichten kann, davon erzählt der Schriftsteller Guillermo Arriaga in seinem ungewöhnlichen Kriminalroman „Der süße Duft des Todes“.

Ein Mädchen wird erstochen aufgefunden, und der traurige Fund bringt das träge Dasein der Dorfbewohner durcheinander. Nicht etwa deshalb, weil Panik ausbricht und fanatische Wahrheitssuche, sondern weil die Menschen hier ganz und gar nicht an die segensreichen Auswirkungen detektivischer Aufklärung glauben. Sie setzen auf die heilende Wirkung fadenscheiniger Erklärungen. Hat erst mal einer angefangen, eine Behauptung aufzustellen, von der er nicht mehr zurücktreten kann, müssen andere ihm folgen, um nicht aufgrund einer haltlosen Theorie ins falsche Licht gerückt zu werden. Die Folge ist ein sich selbst konstituierendes Komplott mit fatalen Konsequenzen. Als Erstes trifft es den 16-jährigen Ramón. Von ihm heißt es, er habe eine Liebesbeziehung zu der Ermordeten unterhalten. Ramón, der von dem nackten, blutbesudelten Mädchenkörper fasziniert ist, vergisst zu dementieren und wird in die Rolle des nach Rache dürstenden Liebhabers gedrängt, obwohl er das Mädchen nur vom Sehen kannte.

Das zweite Opfer dieser kollektiven Irreführung ist der Gemeindevorsteher. Justino Téllez packt ein aufklärerischer Drang. Er sucht nach Spuren und Indizien. Sehr bald schon hat er herausgefunden, dass der von allen Verdächtigte nicht der Mörder sein kann. Aber Justino schweigt. Er will den Dorffrieden nicht stören, bloß um die Haut eines zwielichtigen Burschen zu retten.

Eine Mauer des Schwätzens entsteht. Einer will gesehen haben, wie der angebliche Mörder mit dem Mädchen im Dunkel der Nacht verschwand. Und weil er von seiner Behauptung ohne Gesichtsverlust nicht mehr zurücktreten kann, duldet er, dass andere seine Lüge so lange ausschmücken, bis sie die einzig mögliche Wahrheit ist. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, denn die Dorfbewohner wollen das Blut des Mörders fließen sehen.

Eine Tragödie? Vielleicht ist es auch eine Komödie? Oder bloß ein mit genialer Hand aufgeschriebenes Protokoll wahrer Ereignisse? Das Dorf und seine Bewohner gibt es tatsächlich. Sogar die Namen und Personen stimmen, behauptet der Autor Guillermo Arriaga. Er hat den Analphabeten von Loma Grande sein Buch vorgelesen, und sie haben sich köstlich amüsiert. Dass es in der Geschichte vom toten Mädchen und den rachsüchtigen Dorfbewohnern um so fragwürdige Tatbestände wie uneidliche Falschaussage, falsche Beschuldigungen, Vernichtung von Beweismaterial, Anstiftung zum Mord und Verschleppung der Ermittlungen geht, hat sie offenbar nicht gestört. In Loma Grande werden Wahrheiten ganz offensichtlich anders produziert als in den Städten. Und so bleiben konsequenterweiser am Schluss dieser so düsteren wie lebensfrohen Geschichte fast alle Fragen offen. Dennoch ist das Ergebnis befriedigender als in vielen „echten“ Krimis, die verzweifelt versuchen, uns Wahrheit und Aufklärung als ewig gültige Werte zu verkaufen. Darüber hinaus ist „Der süße Duft des Todes“ ein brillanter Roman über das dörfliche Leben in Mexiko wie auch eine humorvolle Exerzitie über Schicksal, Zufall und Notwendigkeit. ROBERT BRACK

Guillermo Arriaga: „Der süße Duft des Todes“. Aus dem mexikanischen Spanisch von Susanna Mende. Unionsverlag, Zürich 2001, 208 Seiten, 28 DM