Es gibt ein Essen nach BSE

Neue Nahrung für den Gourmet von heute: Schwalbennester und Erdverwandtes

Gerade in Zeiten der Not eröffnet sich der Landbevölkerung eine neue Alternative

Appetitlich honigbraun schauen die kleinen Viertelkugeln aus. Rasch stelle ich eine Leiter auf, um es auszuprobieren. Diese kunstvoll in den Winkel von Hauswand und überstehendem Dach geklebten Nester. Am ganzen Stall ziehen sie sich entlang, während ihre Erbauer mit Gezeter und Geschwätz übers agrarische Umland schießen. Kleine Gesellen sind‘s, oben metallisch-blauschwarz, unten kalkweiß: Mehlschwalben. Sie tratschen, flattern und segelfliegen. Man sieht, dass ihnen das Dahingleiten nicht nur Insektenmahlzeiten beschert: Sie jagen einander auch aus reinem Vergnügen. Und dann speicheln und spachteln sie an ihren luftigen Nistgewölben, wozu sie Lehm und Erdnahes an Wasserlachen aufnehmen.

Ein unbesetztes Nest lässt sich locker mit einem Küchenmesser vom Rauhputz lösen. Behutsam entferne ich anhaftende Steinchen. Ganz sauber ist es, das Nest, geruchsneutral; leicht glänzt die Lehmoberfläche. Feine Grashälmchen und dünnste Stöckchen von holzigen Ackerkräutern schimmern durch die Glasur: knusprig karamelisiert, fast wie bei einem Florentiner, diesem goldgelben Weihnachtsgebäck aus Mandeln, Ingwer, Schokolade und ... – mmmh, yamm, lecker ...

Im Drehen und Wenden der handlichen Halbschale fällt eine lockere Ecke ab, die ich probeweise in den Mund schiebe und erst zögernd, dann beherzter zerbeiße. Es schmeckt wie eine Mischung aus Erde und Krokant. Viele Naturvölker essen ja Erde, und Ernährungsgurus in aller Welt raten auch dazu. Das Erdessen kräftigt Abwehr und Verdauung. Rasch noch einmal knirschend zugebissen! Gerade in Zeiten der Not eröffnet sich so der Landbevölkerung eine neue Alternative.

Nein, da reichen die Nester der Salanganen, einer Seglerart aus Südostasien, keineswegs heran. Ihr lauer Eigengeschmack, so mitten zwischen pürierter Eierpappe und Blattgelatine, muss für die berühmte Schwalbennestsuppe erst mit vergorenen Sojabohnen und Gemüsebrühe aufgepäppelt werden. Höchst erfreulich, räuterig-aromatisch, kommt mir dagegen die Bruthöhle der heimischen Mehlschwalbe vor. Dank einer sanft nachschleppenden Schärfe, die wohl vom Chitin mitverbauter Insekten herrührt, wird der Speichelfluß angeregt.

Hier neigt der Gourmet in mir eher dazu, mit etwas Süßem gegenzusteuern. Gesagt, getan und Verschiedenes erprobt: Puderzucker ist zu aufgesetzt. Feiner, weil organischer, wirkt es, die bevorzugten Aufnahmeplätze für den erdigen Speis, die Ränder kleiner Tümpel und Pfützen an Feldwegen und ehemaligen Weiden, mit reichlich Rübenzucker und etwas Apfelessig zu präparieren. So werden süßsaure, geschmacklich „runde“ Nester erzielt. Auch Zimtspuren nehmen die emsigen Baumeister gern mit auf.

Der Ornithologe warnt freilich: Nie mehr als ein Nest pro Brutzyklus und Schwalbenpaar entnehmen. Leicht könnte den Tieren sonst die Spucke wegbleiben. Auch wird von artverwandten Nestern dringend abgeraten. Rauchschwalben etwa sind mit dem Verschwinden der Tierställe vom Aussterben bedroht und dürfen keinesfalls zu kräftezehrender Nestproduktion gezwungen werden; Mauersegler hingegen bedienen sich meist aufgelassener Spatzen- oder Rotschwanzgehäuse. Diese aber sind ungenießbar, viel zu strohig, holzig.

Als Dessert für eine zünftige Mehlschwalbennestmahlzeit empfehlen sich kleine Pilgerkuchen aus Mekka. Sie sind flach, länglich, und bilden daher schon optisch einen hübschen Kontrast zu den Lehmscherben. Aus rotem Staub wurden sie geformt und mit grauen, arabischen Schriftzeichen bedruckt: „Staub unserer Erde mit dem Speichel von einigen von uns.“ TOM WOLF