Der Chat als Ort der Ehrlichkeit

■ Sozialpsychologische Untersuchung der Internet-Kommunikation / Diskussion in der Arbeitnehmerkammer

Ganz am Schluss der Diskussion platzte einer bekennenden 68erin der Kragen: „Werden hier Menschen nicht bloß ruhig gestellt? Die sitzen vor der Kiste und gehen nicht mehr für ihre Rechte demonstrieren. Für mich ist das eine Horrorwelt.“ In den zwei Stunden zuvor hatten Thomas Leithäuser und Paulina Leicht die Ergebnisse des von Uni-Bremen und Arbeitnehmerkammer gemeinsam durchgeführten Forschungsprojekts „Junge Erwachsene im Netz. Kommunikation und Identitätsbildung in Chats und Rollenspielen“ vorgestellt. Gut 50 BremerInnen hatten dem Vortrag im Kultursaal der Arbeitnehmerkammer zugehört und anschließend eifrig diskutiert. Kulturkritische Ablehnung des Chattens war dabei – mit Ausnahme der letzten Rednerin – nicht zu hören.

„Entfremdung, sozialen Autismus, Einsamkeit und Isolation, all das gab es unter den von uns befragten Chattern nicht“, versicherte Thomas Leithäuser gleich zu Beginn. Auf einen Fragebogen im Netz hatten die Forscher 145 zum Teil sehr ausführliche Antworten bekommen und mit einigen Bremer Chattern zusätzlich persönliche Interviews geführt. Auffällig war dabei vor allem, wie eng die virtuelle Kommunikation am Computer mit dem verbunden ist, was die Chatter gerne das „Real Life“ nennen, also die persönliche Begegnung. Drei Viertel der Befragten hatten sich schon mit ihren Chat-Partnern getroffen. „In der Kneipe ist so eine Gruppe ganz leicht zu erkennen“, berichtete eine Chatterin, „so unterschiedliche Leute sitzen sonst ja nie zusammen.“

Der Übergang vom Chat zum Real Life ist eine heikle Angelegenheit. Im Chat herrscht zunächst Anonymität, jeder kann jederzeit dazukommen oder wegbleiben, niemand muss sich rechtfertigen. Viele Chatter versuchen, auch mal ungewohnte Rollen auszuprobieren. Männer chatten als Frauen, Schüchterne als Draufgänger, Verklemmte als Sexomanen. Trotzdem haben 70 Prozent der Befragten das Gefühl, „ehrliche Kontakte“ dabei zu bekommen. „Im Chat sieht man, wie die Leute wirklich sind“, sagte eine Chatterin, „im Real Life wird einem oft was vorgemacht.“ Die große Mehrheit der Befragten hat schon mit Chatpartnern geflirtet oder sich sogar verliebt.

„Wer sich verliebt, wird oft enttäuscht“, hieß es jedoch öfter. Die Kommunikation, die im anonymen Netz wunderbar funktioniert, erstarrt beim Zusammentreffen im echten Leben leicht in Peinlichkeit. „Ich hatte mir ganz falsche Vorstellungen von ihnen gemacht“, sagte ein Chatter nach der ersten Begegnung mit Netzpartnern in der Kneipe. Und aus dem Online-Flirt wurde beim persönlichen Treffen keine Beziehung. „Aber reden können wir gut miteinander, und das trös-tet“, stellte ein Chatter fest.

„Vielleicht bietet der Chat den Jugendlichen heute das, was wir damals in der Selbsterfahrungsgruppe gefunden haben“, vermutete ein Psychologe in der Diskussion. Und Selbsterfahrung steht schließlich oft vor dem Eintreten für die eigenen Interessen. Die Chat-ForscherInnen Leithäuser und Leicht können sich die virtuelle Welt jedenfalls durchaus als politischen Ort vorstellen. Sie schätzen, dass über 50.000 BremerInnen in den Kommunikationszirkeln des Internet aktiv sind, die große Mehrheit von ihnen jung und gebildet. Eine Zielgruppe, die auch die Arbeitnehmerkammer gerne erreichen würde. Deshalb hat sie die Forschung finanziert.

Und was ist mit der Horrorwelt der vereinsamten Autisten vor ihren flimmernden Kisten? „Es gibt doch heute keine Großdemo mehr, die nicht im Internet vorbereitet worden wäre“, erinnerte ein Diskussionsteilnehmer die besorgte 68erin.

Dirk Asendorpf

Der Abschlussbericht steht ab Mitte März unter www.uni-bremen.de/fragebogen und www.arbeitnehmerkammer.de im Internet.