Die Politik muss in die Schulen

Was wir wissen müssen (Teil 6): Der Streit um Politik, um eindeutige Meinungen darf nicht aus der Schule verbannt werden, meint Wolfgang Thierse. Der Bundestagspräsident fordert die Bibel, Goethe und mehr Mut zur Erziehung

Die prägnanteste Beschreibung dessen, was Bildung erreichen soll, hat wohl Hartmut von Hentig geliefert. Schule sei dafür da, „zu lehren, was das Leben nicht lehrt, was aber für seine Erhaltung und Würde notwendig ist“. Dem zuzustimmen heißt, einen Kanon dessen zu erstellen, was zur Erreichung von Würde notwendig ist. Dieselbe Frage folgt aus der Tatsache, dass jede Gesellschaft einen Grundbestand an gemeinsamem Wissen und Bezugsgrößen benötigt, um sich zu verständigen. Als Beispiele nenne ich die Bibel und wenigstens etwas von Goethe – davon sollte jeder etwas gelesen haben.

Mit rechtsextremen Schülern – die, die ich kennen lernte, lesen praktisch nicht, haben keine Sprache im genannten Sinne – ist es wohl so wie mit Diktatoren: Hat man sie erst einmal, wird man sie so leicht nicht wieder los. Besser ist es also, dafür zu sorgen, dass man gar nicht erst welche bekommt – weder rechtsextreme, autoritäre Schüler noch Diktatoren. Was also kann Schule tun? Sie kann jedenfalls sehr wenig erreichen, wenn die vielen, die zusammen „die Gesellschaft“ genannt werden, es der Schule alleine überlassen, den Rechtsextremismus zu bekämpfen oder ihm vorzubeugen. Als Insel inmitten einer ganz anderen Realität kann das der Schule allein nicht gelingen.

Die Lehrer zählen

Einer Bildungsdiskussion, die nur um Schulformen und Anzahl der Schuljahre streitet, muss eine Selbstverständlichkeit in Erinnerung gerufen werden: Es kommt am Ende vor allem auf die Qualität des Unterrichts an und auf ein Mindestmaß an Zuwendung zu den Schülern – es kommt also auf die Lehrer an.

Was das Leben nicht lehrt, ist offenbar der Wert der Freiheit. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität brauchen Demokratie. Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die diese Grundwerte garantieren kann. Das trifft zu, klingt gut – und ist sehr abstrakt. Dieser Erkenntnis sind Jahrhunderte kultureller, zivilisatorischer Entwicklung vorausgegangen. Es kostet offenbar einige Mühe, diesen Lernprozess an die nächste Generation weiterzugeben. Worauf es – im Gegensatz zu manchen Vorschlägen – besonders ankommt, ist also politische Bildung. Und dabei geht es nicht nur darum, wie die Demokratie funktioniert, sondern um die Gründe für demokratische Verfahren. Sie nämlich spiegeln die Unantastbarkeit der Würde des Menschen wider, den Schutz, der Minderheiten zusteht, und die elementaren Menschenrechte der Meinungs- und Glaubensfreiheit. Um diese demokratischen Ziele zu erreichen, benötigen wir demokratische Mittel.

Die heutigen Schülerjahrgänge haben keine eigene Diktaturerfahrung mehr. Im Westen gilt das auch für deren Eltern, im Osten nicht. Paradoxerweise ist das aber nicht etwa ein ostdeutscher Vorteil, jedenfalls dann nicht, wenn mit der SED-Diktatur auch der Himmel der elterlichen Überzeugungen zusammengebrochen ist. Dann taugen sie nicht unbedingt als Vorbild. Für viele Lehrer gilt dasselbe. Sie könnten das verlorene elterliche Vorbild auch dann nur schwer ersetzen, wenn sie sich darum bemühten. Stattdessen höre ich häufig, dass auf die Diktaturerfahrung in der DDR mit ihren einseitig durchpolitisierten Lehrplänen und Erfolgskriterien nun mit einer Verbannung alles offenbar Politischen aus den Schulen reagiert wird. Das kann nicht gut gehen.

Schüler benötigen Politik zum Anfassen. Politiker gehören in die Klassen, um von ihrer Tätigkeit und ihren Überzeugungen zu berichten, wenn sie danach gefragt werden. Sie gehören in die Schulen, um überhaupt gefragt werden zu können. Schule darf vor Politik keine Angst haben. Niemand wird politische Ausgewogenheit als Mittel gegen parteiische Ausrichtungen verkennen, aber sie darf nicht zum Vorwand werden, Politik, parteilichen Streit und eindeutige Meinungen gleich ganz aus der Schule zu verdrängen. Woher soll sonst die Erfahrung stammen, dass Politik Spaß machen kann? Vielerorts macht Politik stattdessen Angst, weil sie undurchschaubar erscheint oder sich als rechte Gewalt zeigt.

Schule braucht Verantwortung für Erziehung. Die Trennung, dass Eltern für die Erziehung und die Schulen nur noch für die Bildung (und diese gar reduziert wird auf technisch-naturwissenschaftliche, auf Arbeitsmarkt-Qualifikationen) zuständig seien, funktioniert nicht. Die Länder richten die Bildungsziele explizit auch auf Werte aus, die nach den Verfassungen Geltung beanspruchen. Das allein gebietet schon Erziehung, auch wenn man dafür andere Namen sucht. Es entspricht ganz und gar nicht meinem skeptischen Menschenbild, sich darauf zu verlassen, dass in einer Informationsgesellschaft jeder auf sich allein gestellt das Richtige vom Falschen unterscheiden kann. Die Flut von Reizen und Informationen, denen wir immer mehr ausgesetzt werden, ist kein Wissen. Und Wissen ohne Werte, ohne Gewissen gefährdet eher die Zivilisation, als dass es sie stärkt. An den Werten unserer politischen Kultur ausgerichtete Erziehung wäre das probate Mittel, wäre Bildung gegen rechts. Eine Schule, die zwar Mathematik/Informatik als obligatorisches Fach anbietet, aber nicht Philosophie/Religion, muss hier versagen!

WOLFGANG THIERSE