Zwischen Cable Car und Kobra

Annäherung an San Francisco, an seine Sitten und Gebräuche beim Warten auf die Straßenbahn. Die hat noch dieselbe Technik wie vor 126 Jahren und zuckelt nicht immer reibungslos über die Hügel der Stadt zwischen Mexikaner- und Chinesenviertel

Rappelnd hält der Wagen auf halber Höhe des ersten HügelsEs ist kein Problem, eine Flasche Weinins Restaurant mitzubringen

von ELKE KRÜGER

Irgendetwas stimmt nicht an diesem Vormittag am Turntable, dem Wendepunkt des Cable Cars in der Powell Street in Downtown San Francisco. Welch ein Andrang! Sollte ich vielleicht besser zu Fuß zum Fisherman’s Wharf? All die Hügel auf und ab? Mit leerem Magen? Nein. Ich bleibe in der Schlange und warte auf das 126 Jahre alte Verkehrsmittel in der Stadt der 7.000 Hügel.

Vor einigen Stunden hatte ich bereits das Vergnügen mit einer echten Schlange. Schaudernd erinnere ich mich an den Morgen in meiner Privatunterkunft, einem viktorianischen Haus im Mexikanerviertel Mission District. Ich öffnete den Kühlschrank. Was blinzelt mich an? Eine Kobra – in Schnaps eingelegt! Konnte Hans diese Flasche nicht woanders deponieren?

Hans ist mein Vermieter. Ein Schwede, der 1968 in San Francisco hängen blieb. Ein unverbesserlicher Hedonist. Letztens erst bezahlte er mit meinen Mietdollars die Liebesdienste vietnamesischer Frauen. Gestern Abend nun stand er frisch rasiert und braun gebrannt im Wohnküchenkaminzimmer vor seinen geöffneten Koffern und zog die Flasche unter dröhnendem Lachen aus der Wäsche: „Schlangenschnaps, das ist da der Renner!“ Fasziniert betrachtete er sein Mitbringsel. Blatt und Beeren schwammen in einer klaren Flüssigkeit. Und vom Boden empor wand sich besagte kleine Kobra, den Rücken drohend vor der Verengung des Flaschenhalses gespreizt. Der Flasche entströmte ein ekliger Geruch. Hans schüttete sich einen ein. „Der ist bestimmt gut für die Männlichkeit“, ermutigte ich den alten Macho. Der schluckte das Zeug, schüttelte sich und spülte ein Glas Wasser hinterher.

Hans hat gern ein volles Haus. Auf meiner Etage wohnt noch sein langhaariger bärtiger Sohn Emil. Mit 25 Jahren denkt er eher an die Interpretation des Aztekenkalenders als an die Abnabelung von seinem Vater. Großherzig bot Hans auch der arbeitslosen Dora, einer zierlichen, hübschen Sozialarbeiterin mit Vogelstimme, Unterschlupf an. „Damit sie ihr Leben neu sortiert.“ Beide wollen was voneinander. Doch keiner zeigt es dem anderen. Und so sind sie sich die meiste Zeit spinnefeind.

Unkomplizierter läuft es da schon mit Frieda. Selbst Stammgast Elliot liebt die große schwarze Hündin. Elliot ist Historiker mit Schwerpunkt Neue Deutsche Geschichte und studierte lange in Deutschland, bevor er eine Stelle an einer Uni in San Francisco antrat. Wenn er Frieda die Ohren krault, vergisst er zu dozieren.

„Hey, Mam, es geht weiter!“ Ich rücke schnell auf. Aber es sind nur ein paar Meter. Ich schaue auf die Uhr. Ob ich es noch schaffe, rechtzeitig zum Fisherman’s Wharf zu kommen? Was ist, wenn sich Jogger Bernd, mit dem ich dort verabredet bin, schneller als die Cable Car erweist?

Heute Morgen, ich setzte gerade das Teewasser fürs Frühstück mit Dora auf, als Emil hereinkam. Gut gelaunt, aber ziemlich verlaust. Beim Gang durch das Wohnessküchenkaminzimmer ließ er dann fallen, er wolle duschen. Dora verdrehte die Augen nach oben. „Hoffentlich nicht in unserem Badezimmer! Wenn der duscht, ist anschließend die ganze Wanne schwarz.“ Und ich Idiotin hatte sie tags zuvor gerade geschrubbt! Der festen Meinung, es handle sich um prähistorische Schmutzreste.

Eigentlich geht es doch zügig voran. Wenn gleich wieder ein Wagen herunterkommt, dann steigen wieder etwa vierzig Leute ein. Fehlen also nur noch drei Wagen und ich bin dran.

Dora ist wirklich ein Kapitel für sich. Weil Hans ihr gegenüber immer den Wohltäter und Weisen heraushängen lässt, hat sie sich ihres Exlovers Rob besonnen. Der ist zwar längst mit einer Chinesin verheiratet, aber Dora ist sicher: „Rob hängt immer noch an mir.“ Und Rob hat eben ein Haus. Und würde angeblich sogar ein kleines Zimmer für sie räumen. Woraufhin die Chinesin einen Tobsuchtsanfall bekam. „Wie würdest du denn reagieren, wenn das dein Ehemann für seine Ex täte?“, frage ich sie.

Eisenräder quietschen jetzt unmittelbar vor mir. Schnell klettere ich hinein in den Wagen und kann in dem halboffenen Gefährt einen schönen Sitzplatz mit Seitenausblick ergattern. Neben mich setzen sich zwei kleine Schwarze mit einer weißen Aufpasserin. Und schon dröhnt die Stimme des Fahrers: „126 Jahre und immer noch die gleiche Technik.“ Dann eine knappe Entschuldigung für die Verzögerung. Ein Unfall auf der Strecke habe den Verkehr aufgehalten. Und schon tuckern wir gemütlich die Powell Street hoch. Nicht lange. Rappelnd hält der Wagen plötzlich auf halber Höhe schon des ersten Hügels. Keine Haltestelle weit und breit. Einer der beiden kleinen schwarzen Bengel hat sich inzwischen mit dem Fahrer angefreundet. „Du kannst wohl nicht mehr!“, quakt er ihn frech an. „Warte, mein Bürschchen ... da wollen wir mal sehen, ob du heute Morgen deine Weaties gegessen hast ...“, kontert der donnernd. Und hievt den Kleinen an die Hebel, als ob es nichts Wichtigeres zu tun gäbe. „Schau, der ist zum Bremsen und der zum Greifen ...“ Der Kleine ruckelt ein bisschen daran herum, nichts rührt sich.

Wir stehen etwa auf der Höhe Sacramento Street. Rechts unten erheben sich die Wolkenkratzer des Financial Districts. Das Viertel der Banken, die Welt des Geldes mit ihrer besonderen Note: im frisch gebügelten Anzug oder Kostüm, jung, dynamisch, hoch verschuldet und hier und da vielleicht wirklich reich. Dazwischen die tageslichtentwöhnte, blasse, neue, erfolgreiche Computergeneration. Leute, die die Preise für den knappen Wohnraum auf der engen Halbinsel verderben. Zwar gibt es so etwas wie eine Mietpreisbindung. Sie orientiert sich aber an schwindelerregenden Höhen. Eine Zweizimmerwohnung in einem ganz normalen Stadtteil kostet über 1.000 Dollar.

„You can kiss my ass, you can kiss my ass!“ Ein spindeldünner Obdachloser mit Einkaufswagen schreit einen der Gebügelten an, die geflissentlich ihren Geschäften nachgehen. Oder in der Straße stehen und rauchen. Einem anderen ist gerade der gesamte Besitz aus dem Einkaufswagen auf den Bordstein gekippt. „Fuck you!“, schreit er einem vorbeifahrenden Autofahrer zu, während er seine Sachen wieder in den überdimensionalen Einkaufswagen packt. Andere sitzen mit einem Schild daneben: „Hungry“.

Ob auch Geisteskranke unter denen sind, die hier auf der Straße leben? Hatte Elliot mir nicht erzählt, ihre Therapiezentren seien Ende der 60er-Jahre, als Ronald Reagan Gouverneur von Kalifornien war, alle geschlossen worden, ohne ihnen Zugang zu Jobs und Wohnungen zu verschaffen? Begründung: reine Geldverschwendung. Sozialarbeiterin Dora hatte ihm natürlich gleich widersprochen. „Ach was, das war doch überall die Zeit, als in der Psychotherapie die Befreiung geistig Behinderter groß geschrieben wurde.“

Inzwischen hat auch unser Fahrer wieder alles unter Kontrolle. Es geht endlich über die Hügelkuppe und ab zur ersten Talfahrt. Als hätte ich sie mit meinen Gedanken angezogen, sehe ich sie plötzlich am Wegesrand: diese Einkaufswagen. Vollgepackt mit Decken, Schlafsäcken, Teppichen, die aus schwarzen Plastiksäcken lugen. Besonders viele freilich findet man in Height Ashbury, dem ehemaligen Flower-Power-Viertel. Kleinere Einkaufstüten hängen an dem Wagen; daneben liegt, steht oder geht der Besitzer. Wehe, die Gewichte sind ungleichmäßig verteilt. Dann kippt die Wohnung eben von der Bordsteinkante. Der Bürgermeister von San Francisco glaubte, die Einkaufswagenfrage müsse neu diskutiert werden. Sein Vorschlag: Obdachlose ja, aber nur ohne Einkaufswagen. Ein Handtäschchen reiche. Schluss also mit den Minimobilheimen? Es gebe schließlich genug Unterkünfte für Homeless People. Beliebt ist der Bürgermeister mit seiner Obdachlosenpolitik sowieso nicht. Noch weniger seit dem Kirschkuchen-Attentat der drei Aktivisten 1998, die in der Stadt unter dem Namen die „Cherry-Pie-Three“ berühmt wurden. Die drei bewarfen den hohen Herren mit dieser Art von Backwaren. Und ein Gericht urteilte darauf: sechs Monate Knast oder drei Jahre auf Bewährung, also drei Jahre keine Kirschkuchen mehr werfen.

Wir rumpeln jetzt durch Chinatown, wo die größte chinesische Gemeinde außerhalb Chinas lebt. Alles ist zweisprachig, auch die Straßenschilder. Ältere Leute befühlen an den zahllosen Läden jedes Stück Obst und Gemüse auf Qualität. Frisch muss es sein. Teile ihrer Kochkunst haben die Köche längst in die kalifornische Küche übernommen. Aber nicht nur der chinesischen. Der Kulturenmix regiert auch die Kochkunst. Aus den besten ausländischen importierten Rezepten entstanden neue köstliche Kompositionen. Dass man sich dazu in Kalifornien auf Wein versteht, das hat sich bis zu uns herumgesprochen. Die aus Sonoma und Napa haben schließlich einige international anerkannte Preise eingeheimst. Es ist kein Problem, eine Flasche Wein ins Restaurant mitzubringen, sogar in ein teures. Für das Öffnen und das Spülen der Gläser kassieren die Kellner zwölf Dollar.

Etwas zu Essen wäre jetzt nicht schlecht. Mein Magen knurrt mittlerweile zum Gotterbarmen. Dazu dieses mulmige Gefühl auf dem abschüssigen Gelände der Hyde Street. Einzig das fantastische Panorama der San Francisco Bay lässt mich noch für Momente die mittlerweile einstündige Verspätung vergessen.

Endlich: Endstation Fisherman’s Wharf. Ob Bernd noch da ist? Da sehe ich ihn in dem dem Touristengewimmel – mit einer Tüte Fast Food in der Hand. Der rettende Engel, schneller als das Cable Car.