Offline ist auch online normal

DIGITALE DEMOKRATIE (4): Das Internet wird die Politik nicht verändern. „Digitale Demokratie“ ist ein schönes Schlagwort, das wenig bedeutet. Und das ist gut so

Insgesamt ist das Internet nicht mehr und nicht weniger politisch als die Offline-Gesellschaft

Das Internet als eine politische Revolution: Davon träumen die Propheten der digitalen Demokratie seit Jahren. Bürger sollen sich ungehindert an die Politiker wenden können und direkt mitmischen bei allen relevanten Entscheidungen. „Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie“ lautet das Credo – und der Untertitel eines einschlägigen Sammelbandes zum Thema.

Der Traum scheint sich zu erfüllen. Das Internet ist auf dem Weg zum Massenmedium: Bis zum Ende des Jahres werden mehr als ein Drittel aller Deutschen online sein, wie eine aktuelle Studie von ARD und ZDF besagt. Bald wird das Internet so verbreitet sein wie die traditionellen Medien Zeitung, Radio und Fernsehen – und sie in Teilen verdrängen oder schlucken.

Ein „neues athenisches Zeitalter der Demokratie“ wird dennoch nicht anbrechen, wie es der digitale Visionär (im Nebenamt derzeit bangender US-Präsidentschaftskandidat) Al Gore einst prophezeite. Zwar bietet das Internet viele Möglichkeiten, um sich am politischen Geschehen zu beteiligen. Doch die sind nicht grundsätzlich neu, sondern beschränken sich meist darauf, längst bekannte demokratische Partizipationsmechanismen auf das Netz zu übertragen. Dass sich aber allein deshalb mehr Bürger am politischen Geschehen beteiligen, ist nicht zu erwarten.

Zwar gibt es im Netz durchaus beachtenswerte Beweise für politische Aktivität, die von den digitalen Visionären auch immer wieder gern angeführt werden – etwa die Diskussionsplattform „democracy online 2day“ (Steffen Wenzel in der taz vom 19. 10. 2000) oder Internet-basierte Protestaktionen (Christoph Bieber in der taz vom 9. 10. 2000). Aber: Solche politischen Aktivitäten gibt es auch außerhalb. Insgesamt ist das Netz nicht mehr und nicht weniger politisch als die Offline-Gesellschaft. Selbst so spektakuläre Ereignisse wie die weltweite Wahl zum Internet-Direktorium Icann Anfang Oktober ändern an diesem Befund nichts: Zwar haben die europäischen User die vorgeschlagenen Industrievertreter mit Verachtung gestraft und stattdessen den Hacker Andy Müller-Maguhn vom Chaos-Computer-Club in den Kreis der „Krawattis“ (Müller-Maguhn) gewählt. Aber das ist kein Beweis für dauerhaft neue autonome Aktionsformen im Netz.

Der Sieg Müller-Maguhns war stattdessen vielleicht das letzte Aufbegehren derjenigen Internet-Nutzer, die sich selbst als „Netizens“ verstehen. Denn diese Netzbürger sind inzwischen hoffnungslos in der Minderheit; für die allermeisten ist das Internet nur ein Werkzeug, um Bücher zu bestellen, Freunde mit albernen Comic-Grafiken zu beglücken, Zugfahrpläne einzusehen oder Geschäfte abzuwickeln. Ironie des Schicksals: Die allgemeine Verbreitung des Netzes, die die Voraussetzung für alle digitalen demokratischen Visionen ist, rückt in greifbare Nähe. Aber gleichzeitig macht diese Entwicklung hin zum Alltagsmedium die politisch engagierten Netzfreaks zur Randgruppe. Die Offline-Normalität kehrt ein.

Das sehen die digitalen Visionäre natürlich anders. So erhoffen sie sich eine höhere Wahlbeteiligung, wenn erst einmal die geheimen und fälschungssicheren Wahlen per Internet möglich sind, die die amerikanische Firma „Election.com“ und die deutsche „Forschungsgruppe Internetwahlen“ für die nächsten Jahre versprechen. Doch für mehr Wahlbeteiligung dürfte das neue Verfahren allenfalls bei seiner Premiere sorgen: Die Stimmabgabe per Mausklick mag schneller sein als das umständliche Hantieren mit verschiedenen Umschlägen bei der traditionellen Briefwahl. Aber nicht viel.

Sobald das Internet so normal ist wie Toastbrot oder Supermärkte, wird allein ein digitales Wahlverfahren keinen zusätzlichen Politikmuffel zum Mitmachen animieren. Selbst wenn im Jahr 2010 jeder Bundesbürger ab 18 eine persönliche Wahlaufforderung plus zwei Erinnerungen in seinem elektronischen Briefkasten vorfindet: Die sind vermutlich noch schneller weggeklickt, als die Benachrichtung per Postkarte bisher im Mülleimer landete. Es sei denn, es würde der Wahlzwang eingeführt.

Direkter wird die digitalisierte Demokratie ebenfalls nicht unbedingt. Ein elektronisches Wahlsystem werde Abstimmungen schneller und kostengünstiger machen, erhoffen sich die Netzenthusiasten – also könnten mehr Entscheidungen an die Bürger zurückgegeben werden. Ähnliche Erwartungen wurden in den USA bereits in den 70er-Jahren unter dem Stichwort „Teledemocracy“ mit dem Kabelfernsehen verknüpft. Daraus wurde nichts.

Netzbegeisterte werden diesen Vergleich allerdings nicht so schnell akzeptieren: Werden nicht schon seit Jahren mehr direkte Volksentscheidungen verlangt – von der kommunalen Ebene bis hinauf zur EU? Und kann nicht gerade das Internet die dafür nötige Infrastruktur bereit stellen? Die Antwort lautet: Ja. Doch für ein plötzliches Ende des repräsentativen Systems spricht nichts. Zwar wäre es vernünftig, die Wähler an wichtigen Fragen direkter zu beteiligen. Ebenso sinnvoll ist es aber auch, das Gros der politischen Entscheidungen weiterhin an gewählte Volksvertreter zu delegieren. Schon sorgen dicht aufeinander folgende Wahlkämpfe für Politikmüdigkeit: Tägliche Internet-Abstimmung über Feinheiten des Steuerrechts, Schadstoffverordnungen oder Baunormen haben kaum Chancen, das Interesse steigen zu lassen.

Ein sehr bekanntes Argument der Internetvisionäre ist, auf NGOs und Oppositionsgruppen zu verweisen, die das Netz für den weltweiten Kampf sehr erfolgreich nutzen (Christoph Bieber in der taz vom 9. 10. 2000). Doch hat das Internet auch Nachteile, besonders wenn es dazu gedacht ist, eine schon funktionierende Demokratie zu revolutionieren: Spätestens ab 40 Teilnehmern wird eine Online-Diskussion nicht nur unübersichtlich, sondern chaotisch. Die Hemmschwelle zum Mitmachen sinkt, denn eine Protest-E-Mail ist schnell an alle Freunde im Adressbuch weitergeleitet. Damit schwindet jedoch auch die Verbindlichkeit: Langfristig Verantwortung zu übernehmen bleibt aber nötig.

Online-Demokratie heißt lediglich, bekannte Partizipationsmechanismen auf das Netz zu übertragen

Täglich eine halbe Stunde im virtuellen Verband diskutieren, statt jede Woche zur Ortsvereinsitzung in der rauchigen Eckkneipe zu gehen: Das macht politisches Engagement nicht für bislang Uninteressierte attraktiv, sondern erlaubt lediglich eine zeitgemäße Form des Engagements für Leute, die ohnehin aktiv wären. So sind die Mitglieder der Internet-Community „democracy online 2day“ keine Neueinsteiger, sondern zum größten Teil auch außerhalb des Netzes politisch tätig.

Zudem wird allzu häufig übersehen, dass sich die Deutschen am ehesten direkt vor Ort engagieren: wenn etwa die Schule der eigenen Kinder geschlossen werden soll oder wenn der Wald in der Nachbarschaft wegen einer Straße bedroht ist. Wenn der Kontakt aller Beteiligten so unmittelbar ist – was soll da die Virtualisierung? Außer dass man vielleicht die Protestmails elektronisch verschickt und nicht mehr als Unterschriftenliste ins Rathaus trägt. FIETE STEGERS

Fiete Stegers schreibt unter anderem für „Spiegel Online“ und die taz. Sein Schwerpunkt sind Netzthemen. Daneben studiert er Kommunikationswissenschaft, Geschichte und Politik. Er ist Mitarbeiter der Website Onlinejournalismus.de