Königswege im Transitraum

In Berlin sammeln sich die letzten Independents: Im Gegensatz zum Branchentreff der PopKomm. in Köln präsentiert sich die Weltmusik-Messe WOMEX als gallisches Dorf unabhängiger Plattenfirmen

von CHRISTIAN BECK

Erwartungen enttäuschen ist im Geschäft die halbe Miete! Blenden, verführen, überlisten. Wer glaubt, von WOMEX-Chef Christoph Borkowsky, 52, genannt Akbar, auf die Frage nach seinem Status als Letzter der großen Indie-Anführer eine Antwort vom Kaliber „Wir lieben, was wir tun! Wir sind nicht korrumpierbar!! Wir meinen’s schließlich ernst!!!“ zu bekommen, schaut in die Röhre. „Uns will ja keiner kaufen!“, schallt es dem Reporter feixend entgegen: „Wir müssen uns leider selbst ernähren!! Uns nimmt ja keiner ernst!!!“

Und schon hat einen das vor kreativer Energie nur so sprühende Schwergewicht der Berliner Weltmusikszene zum ersten Mal aufs Glatteis geführt. Sich nicht von den vier Multis im globalen Geschäft mit der Musik – der EMI, der Bertelsmann Music Group BMG, Warner und Universal – prostituieren lassen zu dürfen, ist es ein Zeichen von Schwäche? Das Gegenteil ist natürlich der Fall: Während sich die beiden anderen der drei Berliner Populärkulturmessen der Gegenwart, Marc Wohlrabes „berlin.beta“ und Dimitri Hegemanns „Mensch und Maschine“ dem Luxus öffentlicher wie privatwirtschaftlicher Subventionen hingeben können, muss die Worldwide Music Expo, WOMEX, Dritte im Bunde, jede Mark ihres derzeit 250.000 bis 300.000 Mark betragenden Minietats selbst erwirtschaften. Und sie schafft es: Die WOMEX ist der letzte Vorposten klassischer Indie-Ideologie in unserer nahezu komplett von Multis dominierten Welt!

Es gab eine Zeit, da waren Borkowsky und seine „WOMEXicans“, wie er sie mitunter zu nennen beliebt, Gleiche unter anderen unabhängigen Gleichen. Rückblende: „E 88“, ein Jahr vor dem Mauerfall. Westberlin ist Europäische Kulturhauptstadt, die öffentliche Hand bringt Geld mit dem Feuerwehrschlauch unters Volk, und die beiden schillerndsten und geschicktesten Berliner Populärmusiktheoretiker und -praktiker vor Techno teilen sich den Löwenanteil der U-Musik-Subventionen durch zwei: einen Teil für Wolfgang Doebeling (Exile Records, „Roots“, Rolling Stone) und seine Klein- und Kleinstlabelmesse „Berlin Independence Days“ (BID); den anderen für Borkowsky (Piranha, Freunde guter Musik, Tempodrom) und seine „Heimatklänge“. Zwei Jahre später, 1990, ist der „Heimatklänge“-Mann mit seinen neu gegründeten „Worldwide Music Days“ Teil der Dachorganisation BID. Drei weitere Jahre später sind die BID tot, die ehemaligen „Worldwide Music Days“ aber, jetzt World Music Expo, WOMEX, mehr als quicklebendig.

Die „Berlin Independence Days“ hatten das Zeitliche gesegnet, als sie sich am Scheideweg zwischen fremdem Geld und fremdem Einfluss oder dem Versickern der unbezahlten Energien in Unlust und Frust für Letzteres entschieden. Übrig blieben aus der Konkursmasse die „Worldwide Music Days“, im Abschiedsjahr noch eines von insgesamt 12 selbstständigen Units unterm gemeinsamen BID-Dach. Ihrer ist das Abenteurer (Borkowsky: „Exotik! Die Anziehungskraft der Ferne!“). Ihrer ist der Geist, wie etwa Gerald Seligman, mit seinem EMI-Label Hemisphere zehn Jahre lang eine der wenigen wichtigen Weltmusikfiguren in Major-Diensten, in einer Generalabrechnung mit der bösen Industrie im WOMEX-Katalog 2000 ausführlich berichtet. Anders als alle anderen Bereiche des Musikgeschäfts, seien die Weltmusik- und die Rootsszene deutlich von Mitarbeitern geprägt, die, so Seligman, die Musik, mit der sie arbeiten, auch lieben – statt nur das vermarktbare Produkt darin zu sehen: „Diese Weltmusiktreffen waren nach den Monaten schwärenden Major-Alltags für mich immer heilender Balsam“, sagt Seligman. Oder, um das vor lauter frisch gewonnener Freiheit offenbar noch ganz freudetrunkene WOMEX-Jurymitglied mit den Worten Akbars (des Großen) wieder auf den Boden der Realität zu holen: Manifestationen des „Transitraums“, als der die Weltmusik zwischen ethnischen Special Markets und globalen Meta-Markets bis auf weiteres ihre Existenzberechtigung gefunden hat. Eines Transitraums, aus dem sich die Industrie vom afrikanischen Jive über arabischen Al-Jeel, algerischen Raï und Zigeunermusik vom Balkan bis zu kubanischem Son immer neue Originalstile herauspickt, aus denen sie dann, nach Beispiel des Latino-Hysterie der vergangenen Jahre, immer neue Megatrends zu schneidern gedenkt.

44 Firmen und 500 Einzeldelegierte aus 38 Ländern kamen zu diesem Zwecke im ersten WOMEX-Jahr 1994 in Berlin zusammen – eine Zahl, die während die Karawane über Brüssel, Marseille und Stockholm weiterzog, im letzten Jahr, bei der Rückkehr nach Berlin, auf 150 Aussteller und 1.200 Fachbesucher aus 65 Ländern angestiegen war.

Ob der Weltmusik bei solch überschaubaren Dimensionen – so hundertprozentig gesichert ihre Unabhängigkeit wegen ihrer Unersetzbarkeit als Talentscout für die Mainstream-Industrie bis auf weiteres auch scheint – in Zukunft mehr als die Rolle eines Loddels zwischen Kunde und Musikant zukommt, ist die große Frage der unmittelbaren Zukunft. Talente in der dritten Welt finden, in den Transitraum Weltmusik locken und an EMI, BMG, Warner und Universal verhökern – Christoph Borkowsky hätte damit, wenn überhaupt, vermutlich schlimmstenfalls ein kleines Problem. Wie er bei seinen unablässigen Fingerübungen, das Gegenüber mit griffigen Bonmots gefügig zu machen, schon einmal rechtfertigend brilliert: „Es gibt für die Verdammten dieser Erde fünf Königswege zu Schönheit und Reichtum: Sport, Prostitution, Kriminalität, Revolution und Musik.“ Sie alle haben ihre spezifischen, auf der Hand liegenden Haken – außer derMusik. „Die Musik“, sagt der Padrone und redet dabei natürlich, wer hätte es gedacht, von seiner geliebten Weltmusik und von nichts anderem als seiner geliebten Weltmusik: „Die Musik hat all diese Risiken und Nebenwirkungen zusammen!“ Deshalb ist sie ein so großes Abenteuer. Deshalb wird sie sich noch lange, lange Zeit immer wieder erneuern. Deshalb gehört ihr die Zukunft.

Der Autor ist freier Journalist in Berlin, hat die WOMEX-Kataloge der letzten Jahre editiert und leiht, neben Bob Dylan, auch der Weltmusik mal ein Ohr.