Heinrich, immer wieder Heinrich

Heinrich Hampel ist Bettenhändler, Bankrotteur, Verführer in beiden deutschen Staaten und der Held in dem Roman der Saison. Nun könnte glatt das Mana des jungen Grass auf den neuen Starautor Wolfgang Kumpfmüller übergehen: „Hampels Fluchten“

von DIRK KNIPPHALS

Ein hübscher Coup. Vorabdruck in der FAZ nebst Halleluja des Herausgebers Frank Schirrmacher („Wir haben unseren Erzähler gefunden“). Frühe Besprechung im „Literarischen Quartett“ (gestern Abend, nach Redaktionsschluss). Großer Auftritt im Spiegel. Allein die FAZ-Gegenspielerin Zeit kann sich nur zu jovialem Schulterklopfen entschließen („kein aufgekratzter Satzbau – das will bei einem Debüt etwas heißen“). Und das alles noch vor dem eigentlichen Veröffentlichungstermin am kommenden Montag.

Es mag schon sein, dass in Köln beim Verlag Kiepenheuer & Witsch gerade die Sektkorken knallen. Schließlich ist die Gefahr nur noch gering, dass die 100.000 bis 200.000 Mark Vorschuss, die man für „Hampels Fluchten“ angelegt haben soll, keine Rendite abwerfen; und ein neuer Star ist als symbolisches Kapital ja auch nicht schlecht. Es besteht jedenfalls, so viel ist klar, wenig Anlass zur Sorge, dieser Debütroman könnte in dieser Büchersaison noch übersehen werden.

Es gibt ja immer mal wieder diese Bücher, über die sich alle freuen können; die Voraussage, dass „Hampels Fluchten“ zu diesen Büchern zählen wird, birgt nur wenig Risiko. Die Frage, warum das so ist, ist schon schwieriger zu beantworten. Ganz wird man nicht darum herumkommen, die allgemeine Freude über dieses Buch – und ihre messianischen Untertöne – als Reflex auf eine endlich eingelöste Erwartung zu werten.

Wer dem Buch Böses will – aber das will ja niemand –, könnte den Roman sogar glatt als zwar nicht Fleisch, aber Papier, Einband und Lesezeichen gewordene Wunschfantasie des hiesigen Literaturbetriebs beschreiben (es wird nachher noch über Erotisches gehen). Die Argumente dazu lägen auf der Hand. Gleich im ersten Satz kommt, Deutsch-Deutsches signalisierend, das Wort Grenze vor. Der Held heißt Heinrich Hampel – kann es eigentlich einen deutscheren Namen geben? Erzählt wird in epischen Maßstäben, und zwar die Zeit von 1926 bis 1988. Die Hauptschauplätze sind, gut ostwestlich verteilt, Regensburg und Jena. Hier, so scheint es also, hat sich jemand aufgemacht, die Königsklasse unserer Literatur zu entern: den deutschen Zeitroman, immer wieder herbeigeschrieben, immer wieder verworfen.

Auch dass dem 39-jährigen Michael Kumpfmüller dieser Handstreich im ersten Anlauf, gleich mit seinem ersten Roman nämlich, gelungen ist, passt ins Bild. Denn das, nicht wahr, gehört sich für einen wahren deutschen Schriftsteller auch so: Michael Kumpfmüller, a natural born Erzähler.

Das stimmt natürlich nicht; Michael Kumpfmüller hat, wie man hört, vor diesem Roman schon viel geschrieben, Journalistisches, eine Dissertation („Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos“) und für die Schublade. Aber auf die genauen Fakten kommt es gar nicht an. Der Essayist und Schriftsteller Stephan Wackwitz hat kürzlich, sich auf die literatursoziologischen Untersuchungen Pierre Bourdieus beziehend, in seiner Literaturkolumne im Merkur den hiesigen Literaturbetrieb als schamanistische, nämlich als Mana produzierende Veranstaltung beschrieben. Am meisten Mana produzierten für ihn Grass und Enzensberger. Bei dem sich anbahnenden Hype um „Hampels Fluchten“ wird man tatsächlich mit ins Kalkül ziehen müssen, dass zumindest ein Teil des Manas des jungen Grass, seiner auratischen Kraft, auf Michael Kumpfmüller übergegangen ist.

Das wäre dann gerade zur rechten Zeit geschehen. Denn bei aller Generationswechselei, die uns gegenwärtig beschäftigt, ist die Stelle des wirklich urwüchsig deutschen epischen Erzählers noch seltsam unbesetzt. Um die Frage der Grass-Nachfolge dreht es sich doch seit vielen Jahren; diese immer mal wieder offene Wunde ist nun mit dem Auftauchen Michael Kumpfmüllers ruhig gestellt, zumindest bis zur nächsten Saison.

Und? Ist das Buch so toll, wie da so viele behaupten? Es ist. Aber wer allein dieser Frage nachgeht, dem entgeht hier die eigentliche Pointe. Sie liegt darin, dass Michael Kumpfmüller die Erwartungen an einen deutschen Gesellschaftsroman mindestens ebenso sehr, wie er sie erfüllt, zugleich auch ad absurdum führt – und den Gesellschaftsroman gleich mit. Oder, noch weiter gedreht: Er erfüllt die Erwartungen, gerade weil er sie ad absurdum führt.

Und zwar macht es einen der sehr vielen sehr interessanten und Spaß machenden Aspekte dieses Buches aus, wie Michael Kumpfmüller das Material für einen weit gespannten Zeitroman vorlegt – um ihm dann sogleich eine lange Nase zu drehen. Bei der Hauptfigur Heinrich Hampel haben wir es mit einem Bankrotteur in beiden deutschen Staaten zu tun. In der Bundesrepublik geht er – obwohl ihn seine amourösen Qualitäten geradezu dazu prädestinieren – als Bettenhändler Pleite. Nach freiwilligem Grenzübertritt in die DDR scheitert er dort als Schwarzhändler. Es gibt – Heinrich wirkt eher aus Unbedarftheit denn aus Überzeugung bald als IM – Gespräche mit der Stasi, Einblicke in den westdeutschen Konsumrausch des Wirtschaftswunders. Ganz nebenbei ist an einer Stelle von „den Ereignissen des 17. Juni in Ostberlin“ die Rede, und irgendwann später heißt es, man habe „auf einen Studenten geschossen drüben in Westdeutschland“.

Alles liegt für einen Zeitroman bereit. Doch Michael Kumpfmüller interessiert sich nur für einen: für Heinrich, immer wieder für Heinrich. Und für dessen Affären. Die Zeitumstände sind zweitrangig; „man gewöhnt sich“, wie es leitmotivisch in dem Buch heißt, und zwar an alles. Aber mit welcher Frau Heinrich unter welchen Umständen und mit welchem Erfolg im Bett war, das breitet Michael Kumpfmüller bis in die feinsten Verästelungen aus.

Dazu entwickelt er eine ganz unverkrampfte, ganz direkte, ganz zärtliche Sprache: „Wie das letzte Mal? – Ja, wie das letzte Mal, das letzte Mal war fein. – Aber du schämst dich noch immer. – Gar nicht schäme ich mich. Und nun sei still und mach, es ist ganz einfach, ich weiß, so und nicht anders ist das Leben, das wir führen, und es ist erbärmlich und sehr schön.“ Es war ja in den vergangenen Wochen viel über erotische Literatur beziehungsweise das Erotische in der Literatur die Rede. Bezüglich dieses Romans regen wir schon mal die eine oder andere Dissertation über die Differenziertheit der Behandlung des Beischlafs an. Es lohnt sich.

Die Qualitäten von „Hampels Reisen“ sind offensichtlich: Durch diesen Sound der Sprache, den man beim Lesen sofort im Ohr hat, verführt das Buch dazu, der Geschichte des Verführers und Bankrotteurs Heinrich Hampel zu folgen. Und dahinter liegt die tiefe Ironie und auch die Provokation, dass die deutsch-deutsche Geschichte, die von sich aus den großen Ernst geradezu zu fordern scheint, hier nur dazu taugt, das Spielmaterial für die Lebensgeschichte eines Verführers abzugeben. Das, was zwischen Frauen und Männern geschieht, nimmt Kumpfmüller wichtiger als die Stasi-Verwicklungen seines Helden; und, noch wichtiger, er schafft es, dass man ihm beim Lesen darin folgt. Man will gar nicht wissen, wie das mit der Stasi, um bei diesem vielleicht brisantesten Beispiel zu bleiben, genau war, und fühlt sich doch bestens bedient. Voilà: ein Zeitroman ohne Zeitanalyse, ein zutiefst deutscher Roman beinahe ohne Deutschland. Es sind nicht die schlechtesten Bücher, bei deren Beschreibung man in solche Paradoxa flüchten muss.

Kann sein (man weiß ja nicht), dass dies Buch dem einen oder anderen zu unernst vorkommt. Aber auch das wäre ein Missverständnis. Denn es nimmt nicht nur durch seinen Charme für sich ein, sondern auch durch seine künstlerische Reflektiertheit. Sie zeigt sich in der Sprache, aber auch im Aufbau: „An einem Dienstag im März ging Heinrich bei Herleshausen-Wartha über die Grenze.“ So lautet der erste Satz, und dann werden immer abwechselnd die Folgen und die Vorgeschichte dieses Schritts erzählt. Ein Wort, das man zur Beschreibung dieses Romans unbedingt verwenden muss, fehlte bislang noch. Hier ist es: Raffinesse.

Michael Kumpfmüller: „HampelsFluchten“. Kiepenheuer & Witsch,Köln 2000, 494 Seiten, 39,90 DM