„I hate the sunlight!“

■ Sehen und gesehen werden auf eine ganz eigene Art: Das „M'era Luna“-Festival vereinte alte HeldInnen der Dunkelheit im strahlenden Sonnenschein unter dem Himmel von Hildesheim

„Do you remember us?“ fragt Wayne Hussey von The Mission. Natürlich – und wer nicht, braucht nur einen Blick auf die allgegenwärtigen Band-T-Shirts zu werfen. Eine programmatische Frage jedoch, vereint das „M'era Luna“ doch in diesem Jahr einen Großteil jener alternden Helden, die nicht unbedingt durch neue Alben auf sich aufmerksam machen, aber immer noch als Legenden über jener dunklen Musikszene schweben. Wie ein Lexikon des Dark-Rock liest sich das Line-up und Veranstalter Scorpio wird mit den besten Kartenverkäufen beim „Zillo-Festival“ – wie es wohl die meisten Alle-Jahre-wieder-Gäste noch immer nennen – belohnt.

Unter neuem Namen tritt das etablierte Festival dieses Jahr an: „M'era Luna“. Da lässt sich der „Luna“ nicht bitten und strahlt über dem Flugplatz-Gelände im Hildesheimer Vorort Drispenstedt. „M'era Luna ist ein Fantasiename, es sollte rund klingen und auch ein wenig international“, erklärt Elke Ulferts vom Veranstalter Scorpio.

Das Zillo-Magazin, das in den letzten Jahren seinen Namen gegen Lizenzgebühren an Scorpio vermietete, verdoppelte dieses Jahr seine finanziellen Forderungen. Die Konsequenz: anderer Name, erfolgreichstes Festival. Wurden vor zwei Jahren bereits einmal 20.000 Zuschauer von The Cure und Rammstein angelockt, zogen dieses Jahr legendäre Namen wie The Sisters of Mercy, The Mission oder Fields of the Nephilim weit über 25.000 dunkle Pilger in das Niemandsland zwischen Hannover und Braunschweig. Wohl keine andere Musikszene verbindet dieser große Zusammenhalt. Von weit angereist kommen die Fans, unzählige Zeitschriften und Fanzines tummeln sich. „Wir haben sogar eine Journalistin aus Japan hier, und Ackreditierungen aus Weißrussland, Norwegen, Spanien, den USA“, strahlt Elke Ulferts.

Die Belohnung war Sonne pur für einen Haufen sich lichtscheu gebender Gestalten. Alt-Waver Marc Almond blinzelte durch seine rosarote Brille von der Bühne gen blauen Himmel: „Oh I hate the sunlight!“ Er ist nicht der Einzige, dessen musikalische Blütezeit ein Großteil der Konzert-Besucher noch nicht miterleben konnte. Legenden und Vorreiter der Szene stehen auf der Hauptbühne am Samstag. „Do you remember us?“ Ja, an The Mission können sich alle erinnern, und die Band macht es ihnen auch leicht. Klassiker der „Grains of Sand“ eröffnen ihren Auftritt am Nachmittag, „Butterfly on a Wheel“ lässt so manchen melancholisch zurückdenken. Sicherlich einer der Höhepunkte.

Mit Spannung erwartet: der Auftritt der Samstags-Headliner The Sisters of Mercy. Gebauchpinselt von so viel Vorschusslorbeer versucht Andrew Eldrich keinen Zweifel an seiner Star-Existenz übrig zu lassen: Er stänkert herum, betreibt Kindergarten-Spielchen mit den Fotografen. Angst vor der Wahrheit? Zu viel Rock'n'Roll im Gesicht? Stets um ein Image der Exzentrik bemüht, grummelt er von der Bühne, wirft nur sparsam den Fans ein paar Hit-Brocken zu. Nicht gerade für seine Stimm-Gewalt berühmt, lässt er in dichtem Nebel keinen erhellenden Blick zu, was hier live und was Elektronik ist. Na ja.

Weitere Legenden am Sonntag? Phillip Boa, eher Popper als Waver, eher wütend als traurig, versucht sich in Erinnerung zu rufen. Wirr blickt er durch sein zerzaustes Haar, bekommt kaum die Augen geöffnet und sieht aus, als habe er seit Wochen durchgesoffen. „Kill your Idols“. Aber er macht Spaß, lässt es gemütlich angehen, covert eindringlich Leonard Cohens „Berlin“. Auch nicht gerade mehr das blühende Leben ist Pionierin Anne Clark: Zerbrechlich wirkt sie, als sie die Wortfetzen von „Our Darkness“ hinwirft.

Das Programm ist runder geworden in den vergangenen Jahren, was sicherlich den überragenden Erfolg ausmacht. Dem Veranstalter gelingt der Spagat, einerseits die echten Fans der Dunkelheit anzuziehen, aber auch den Zugang für den „Laien“ zu ermöglichen. Keine Angst vor Mainstream ohne dabei den Geist des Festivals zu verraten.

Perfekt platziert sind Rosenfels. In der größten Hitze lassen sie ihre kleinen melancholischen Weisen über den Rasen ziehen. And One haben sich wie die Schwermetaller Oomph! zu Lieblingen des Festivals gemausert. Bei ihren Auftritten ist kein Durchkommen mehr.

Den Finnen HIM mit ihrem androgynen Schönling Ville Valo gelang es, die dunkle Seite des Rock Nr.1-Hit-tauglich zu machen. Fast mehr Zuschauer als die Bühnen zieht ihre Autogramm-Stunde an. Kreischen und Quicksnap-Fotos. „Hey, we do black metal!“, wundert sich Ville über so viel junge Begeisterung. So manch hartgesottener Vertreter wendet sich pikiert ab, zu viel Euphorie für den jungen Schnösel. Am Samstagabend auf der Hauptbühne ist der Junge nicht annähernd so schnöselig wie beim „Hurricane“-Gig im Juni in Scheeßel. Gab er dort den Königstiger, der mit hoher Nase den Bühnenrand abschritt, rockt er in der beginnenden Dunkelheit auf dem Flugplatz. „Rebel Yell“! Und auch wenn es nicht jeder zugeben mag: „Join Me“-Chöre hallen ein wenig verschämt, aber nicht weniger laut über das Gelände. So nah liegen Bravo und Gothic. Während dessen verursacht der Literat Christian von Aster im Chill-Out-Zelt ganze Ströme von Lach- und Trauer-Tränen, berichtet in Reimen von arabischen Legenden und Leichen im Schrebergarten.

Und die Fans, jene Pilger der Dunkelheit, die das „Zillo“ oder „M'era Luna“ zum zumindest optisch spannendsten Festival im Norden machen? Sehen und gesehen werden steht klar im Vordergrund. Beeindruckende Kostüme aus vergangenen barocken Zeiten, Frisuren, höher als ihr Träger. Glöckchengeläut und Patchouli-Duft schwanen über dem Flugplatz-Gelände. Netz, Leder, Straps und Lack. Große Inszenierungen entstehen morgens in der Enge des Aldi-Iglo. Und auch zaghafte Versuche gibt es zu beobachten. Statt H&M-Anzug in der Woche, ein wenig weißen Puder ins Gesicht und ordentlich Gel ins Haar. Allzu schüchterne Versuche konnten im Schmink-Bus von professioneller Hand nachgebessert werden.

Ein Großteil liegt im Gras oder raucht eben jenes, genießt es zu schauen, beschaut zu werden und ein paar Tage lang einfach so auszusehen, wie es gefällt. Damit hat das „M'era Luna“ wohl auch das einzige Publikum, das nahe der Bühne herumlungert und Taschenromane liest, während der Phillip „feine Kunst in Silber“ schafft. Daneben liegen sich so manche Pärchen traurig in den Armen, die Schminke verdunkelt durch den feinen, allgegenwärtigen Staub, der über die Acker zieht. Kollektive Melancholie. Oder um mit Rosenfeld zu enden: „Sad is just another word for free.“

Volker Peschel