Die Stunde der Miss Cloaca

Beauty Queens und ihre Rolle im kollektiven Imaginären: Die Ausstellung „90-60-90“ des Goethe-Instituts in Caracas widmet sich dem Phänomen der Miss Venezuela und der Formel ihrer Schönheit

von ULF ERDMANN ZIEGLER

Die Idee, eine Kunstausstellung zum Thema der Misswahl auszuloben, mag exzentrisch erscheinen, aber in Venezuela – stellte sich heraus – ist die Miss immer in Mode. Besonders dann, wenn sie den Titel „Miss Venezuela“ trägt. Eine solche erschien leibhaftig zur Eröffnung der Ausstellung „90-60-90“ im Museo Jacobo Borges, einem gut klimatisierten Neubau am Parque del Oeste (Westpark). Im Park fand ein Kinderfest statt, dessen Thema nicht die Miss, sondern Drachen waren. In Windeseile hatte sich aber auch dort die Nachricht vom Erscheinen der Unwahrscheinlichen herumgesprochen und Hunderte strömten ins Museum, schnappten sich ein kostenloses Exemplar einer Broschüre, in der Claudia Moreno abgebildet war, und bedrängten die Glückliche um ihr Autogramm. Was die Kunst betraf, entstand ein gewisses Sicherheitsproblem.

Obwohl mehr als die Hälfte der Künstler spanische Namen tragen, ist die Idee vom Leiter des deutschen Goethe-Instituts in Caracas ausgegangen, das dort als Asociación Cultural Humboldt bekannt ist. Er heißt Alfons Hug und schwärmt für die „pechschwarzen Haare“ von Norkis Batista, „die aussehen wie aus Plastik“. Batista blieb im Wettbewerb von 1999 auf Landesebene stecken, sehr zum Bedauern Hugs, der schwört, dass sie und keine andere der eigentliche Liebling des Publikums gewesen sei.

Ihm war aufgefallen, dass das Phänomen der Schönheitskönigin aus Sicht der Venezolaner höchst bedeutsam ist: Man wählt sie in Grundschulen, beim Militär, im Altersheim und im Gefängnis, wie die Fotografien von Gilles Rigoulet zeigen, die einen Katalogaufsatz von Tulio Hernández über „Un país 90 60 90“ begleiten. Hug, in der bildenden Kunst ein gebildeter Laie, holte sich Unterstützung bei der heimischen Kuratorin Élida Salazar.

Schon lange vor meiner Abreise aus Frankfurt stand für mich fest, dass die Venezolaner ihren Beauty-Queens huldigen, während die deutschen Künstler das Phänomen selbstverständlich als kulturelle Verirrung geißeln und, wenn möglich, auch dekonstruieren würden. Was sich als Unsinn herausstellte: Die venezolanischen Künstler lassen in aller Deutlichkeit ihr Unbehagen erkennen. Múu Blanco hat in einer Vitrine 15 Hämmer ausgelegt, neue und gebrauchte, kleine und große, intakte und defekte, um zu signalisieren, dass er die Misses für Produkte brutaler Zurichtung hält. Andererseits sieht man in den mehr oder weniger vollendeten Werkzeugen auch Stellvertreter der jungen Frauen selbst, die man aus den vornehmen Familien von Caracas castet und aus den hintersten Winkeln des Landes entführt, um den Volksgeschmack erfolgreich abzugleichen mit der gültigen Norm.

Als da wäre die ideale Figur „90-60-90“ (in Zentimetern), von Yucef Merhi in aberwitziger Weise vorgeführt anhand dreier verchromter Ringe, die wie ein mathematisches Körpergefängnis von der Decke des Museums abhängt sind – ein Mobile. Die Wirkung ist verblüffend, weil die Maße als kreisrunde Kreise wiedergegeben werden.

Einige deutsche Künstler haben sich direkt mit den venezolanischen Schönheitsköniginnen beschäftigt, am dringlichsten der Berliner Fotograf Frank Thiel. Ihm gelang es, die meisten der Landesmeisterinnen zu einen Studiotermin abzuschleppen, bei dem sie genötigt wurden, ein ärmelloses weißes Baumwollhemd zu tragen. Vor neutralem Hintergrund und im nivellierenden Blitzlicht ging der Charme der Anverwandlung an das Ideal wie magisch verloren; je größer zudem der Widerstand der jeweiligen jungen Frau, auf diese Weise porträtiert zu werden, desto verbogener und derangierter sah sie aus.

Unter die 15 letztlich gehängten Porträts mogelte Thiel das Bild einer kurzhaarigen, mäßig gepiercten Frau namens Clara Milagros Guilarte, die im Vergleich mit den anderen Proben aus dem venezolanischen Menschenpark wie eine Schwarze aussieht. Indem sie als „Miss ‚Cloaca‘“ ausgewiesen ist, nimmt sie die Rolle des Punks ein: die ungezogene Konkurrenz. In einem kurzen, eleganten schwarzweißen Video von Rosemarie Trockel taucht sie als Rapperin wieder auf, frontal, dann im Profil, und dann ein Schwenk über die Lichter an den Hügeln von Caracas bei Nacht, wo sich die Siedlungen der Ärmsten ausbreiten (immerhin gemauerte, also keine Favelas).

Als ich irgendwann Clara selbst über den Weg lief, stellte sich heraus, dass sie in Hamburg aufgewachsen ist und hervorragend Deutsch spricht; eine Anti-Miss, vielleicht, aber leichthin auch eine Ikone des interkulturellen Transfers. Der implizite Rassismusvorwurf Frank Thiels trifft die Venezolaner insofern hart, als gerade die Schönheit der landesweiten Königin gern als Beispiel perfekter Vermischung indianischer, spanischer und schwarzer Wurzeln gepriesen wird: die „Kreolisierung“ des karibischen Raums, von der neumodische Soziologen schwärmen.

Ein anderer deutscher Künstlergast war Via Lewandowsky, eingeflogen zur Misswahl im Herbst 1999, ein riesiges Spektakel in einer Halle, die 16.000 Leute fasst und zu den Höhepunkten einen Sound hervorbringt, der an ein Fußballstadion erinnert. Lewandowskys Video versucht, ekstatische Momente in vibrierenden Stills zu isolieren; die polemische Spitze will sich jedoch – wahrscheinlich bedingt durch Nachlässigkeiten in der Postproduction – nicht recht zeigen. Formal vollendet dagegen das Video von Marcel Odenbach. Man sieht die Münder der Kandidatinnen im Bundeswettbewerb, wie sie sich dem Objektiv küssend nähern, es zu berühren scheinen und dann – von ihrem Atem – entrückt werden hinter einem Schleier. Jede dritte oder vierte Kussbegegnung, genau wenn die Lippen die Linse verdunkeln, wird unterbrochen von kurzen schwarzweißen Takes, die Bürgerkriegsszenen zeigen; Fernsehmaterial vom Putschversuch 1989, wie es hieß. Was Körpersprache betrifft, dürfte Odenbach sich die Videos von Pipilotti Rist genau angesehen haben. Schockierend, wie die Münder im Close-up, kurz bevor das Objektiv schwarz wird, an den Anus denken lassen.

Keine der künstlerischen Positionen lässt das Ideal der Miss für das Ideal von Schönheit gelten. Überhaupt ist ja Schönheit – im klassischen Sinne der Vollendung – kein Ideal der zeitgenössischen Kunst. Marlene Dumas hat giganischer Aquarelle hängen lassen, die wenig elegante Frauen in teils schamlosen Darbietungen zeigen; stilistisch zwischen Schiele, Kirchner und Lüpertz. Ob es dabei um Prostitution geht, muss man raten: Auf jeden Fall stellen die individuellen Figuren jene rohe Geschlechtlichkeit aus, die die standardisierten Misses in ihren Aufmärschen willentlich verbergen; auch die elaborierten Formen von Halbnacktheit erinnern an den Aufmarsch einer Truppe.

Anders, als der Reiseführer versprochen hatte, sind aufgetakelte Damen im Büroalltag von Caracas eher schwer zu finden. Man sieht zwar viele Frauen – und auch Mädchen von elf oder zwölf Jahren – stilsicher und individuell gekleidet, aber keineswegs on the cutting edge. Paare zeigen sich in bemerkenswerter Harmonie, und der durchaus alltägliche Flirt ist überhaupt nicht sexistisch getönt. Das Phänomen der Miss Venezuela auf einen machistischen Komplex zurückzuführen wäre ganz die falsche Richtung.

Es handelt sich um eine kleine Image-Industrie, die sich in der Hand von Osmel Souza befindet. Dieser Mann, der aus Kuba stammt, wacht über die Auswahl der jungen Frauen, lehrt sie die Schritte, quält sie mit Diäten, schickt sie zum Chirurgen und dressiert ihnen als Zuckerguss jene Zwanglosigkeit an, die vonnöten ist, um als Gewinnerin sozial zu bestehen. Seinen Beruf gibt er ganz schlicht als „artífice del Miss Venezuela“ an, und in die Zeit seiner Schönheitsdiktatur fallen beeindruckende Durchmärsche bis zur Miss World (globale B-Liga) und zur Miss Universum (Irene Sáez, 1981, Bárbara Palacios, 1986, Alicia Machado, 1996). Rund ums Jahr bezahlt wird Souza vom Fernsehen, das sich am Tag der Wahl von Miss Venezuela flächendeckender Einschaltquoten sicher sein kann.

Treffend hat unser Gewährsmann, Alfons Hug, beobachtet, dass das Miss-Venezuela-Team ausschließlich aus homosexuellen Männern besteht, die sich die Frauen genauso herrichten, wie sie sie gerne hätten. Heraus kommen Showdamen, die in ihren größten Stunden aussehen „wie New Yorker Drag Queens“ (Hug).

Nur einer der Künstler ist auf die Idee gekommen, auf den Urheber der Images hinzuweisen: der Fotograf Luis Molina-Pantin. Er hat die Erlaubnis bekommen, im kleinen, aber völlig überdekorierten Appartement von Osmel Sousa zu fotografieren. Es sieht dort aus, als hätten Louis XIV. und Little Richard gemeinsam Laura Ashley beauftragt, es richtig gemütlich herzurichten. Das bringt noch keine Deutung der seltsamen Rolle, die der Präsident der Organisation „Miss Venezuela“ seit einigen Jahrzehnten im kollektiven Imaginären der Venezolaner besetzt hält, aber es ergibt sich eine verblüffende Opposition zum typischen Raum der modernen Künste, der bekanntlich weiß ist, auch in Caracas, und zwar makellos: die schöne Moderne und ihr Gegenteil, die moderne Schönheit.