Steiner und das Judentum

Die Kommission „Anthroposophie und die Frage der Rassen“ hat Steiners Gesamtwerk durchforstet: „Zu scharfe Formulierungen für den eigentlich gemeinten Standpunkt“

Rudolf Steiner hat zu seiner Zeit die strikte Trennung von Staat und Kultur gefordert. Aus dieser Grundhaltung hat er sich auch gegen den Zionismus als staatsbildende Idee ausgesprochen und sich für die Integration des Judentums in eine gemeinsame, jedoch differenzierte europäische Kultur eingesetzt.

Vertrat Steiner dabei auch antisemitische Auffassungen? Diese Frage hat auch die von dem international tätigen Menschenrechtsanwalt Ted van Baarda geleitete Kommission „Anthroposophie und die Frage der Rassen“ beschäftigt. Nach mehrfachem Durcharbeiten der 89.000 Seiten der Steinerschen Gesamtausgabe stellte die von der Anthroposophischen Gesellschaft beauftragte Kommission am 1. April 2000 im niederländischen Zeist den 720 Seiten umfassenden Abschlussbericht ihrer vierjährigen Arbeit der Presse vor. Dabei hat sie 16 Äußerungen gefunden, die, wenn sie im heutigen Umfeld genau so gemacht würden, nach heutiger holländischer Rechtslage diskriminierenden Charakter hätten – darunter zwei Aussagen über das Judentum.

Die erste findet sich in einem Aufsatz, den der 27-jährige Steiner in einer Buchrezension von Hamerlings „Homunkulus“ für die Deutsche Wochenschrift 1888 veröffentlichte. „Aber die Juden brauchen Europa, und Europa braucht die Juden“, schrieb er dort. Dabei stellte er die Eigenständigkeit des Judentums als isolierte Gruppierung innerhalb Europas in Frage, während er gleichzeitig den günstigen Einfluss des Judentums auf die europäische Kultur in einem breiteren Zusammenhang würdigte.

Die in die Kritik geratene Stelle lautet: „Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwickelung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten.“

Die Kommission stellt fest, dass an der betreffenden Stelle eine „zu scharfe Formulierung“ für den eigentlich gemeinten Standpunkt der Assimilation verwendet wurde. Die Kommission im Wortlaut: „Heute, nach dem Holocaust, kann diese Formulierung selbstverständlich nicht mehr in anständiger Weise verwendet werden. Für die Kommission ist diese Formulierung, wenn sie heute aktuell verwendet würde, ernsthaft diskriminierend gegenüber Juden.“

Die zweite Stelle findet sich in einer scharfen Polemik Steiners aus dem Jahre 1897 gegen die Gründer des Zionismus, Herzl und Nordau, im Magazin für Literatur. Er warf ihnen Übertreibung und Missbrauch des zur damaligen Zeit aufkommenden Antisemitismus für ihre eigenen politischen Ziele vor. Die in dem Essay von Steiner benutzten Formulierungen können nach dem Trauma des Holocaust in unserer Zeit als ernsthaft diskriminierend erlebt werden, urteilt die Kommission.

Im Übrigen stellt die Kommission überraschend fest, dass Rudolf Steiner und sein Zeitgenosse Theodor Herzl als junge Intellektuelle zu wesentlichen Themen fast identische Auffassungen vertraten. Beide befürworteten die Emanzipation der Juden, beide schätzten den aufkommenden Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts anfänglich als ungefährlich ein, und beide waren schockiert von der Affäre um Dreyfus und traten, überzeugt von seiner Unschuld, sofort öffentlich für ihn ein – wie sich später herausstellte: zu Recht.

Steiner bezog wiederholt Stellung in den Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, unter anderem in einer Artikelserie unter dem Titel „Verschämter Antisemitismus“. Den Antisemitismus hatte er mittlerweile als „Gefahr sowohl für Juden als für Nichtjuden“ und als „Kulturkrankheit“ erkannt, die aus einer Gesinnung hervorging, „gegen die nicht deutlich genug Stellung bezogen werden kann“.

Im September 1900 schreibt Rudolf Steiner: „Für mich hat es nie eine Judenfrage gegeben. Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften.“ DETLEF HARDORP

Detlef Hardorp ist Sprecher der Berlin-Brandenburgischen Waldorfschulen