Ohne jegliche Hysterie

„Hearts and Minds“ ist keine politische Analyse, sondern eine eigenwillige Mischung aus seriöser Darstellung und bitterer Ironie

Kein Krieg wurde so umfassend im Bild dokumentiert wie der Vietnamkrieg. Kein Film zeigt den Horror des Krieges so schonungslos wie „Hearts and Minds“. Aber kaum jemand in Deutschland kennt den Dokumentarfilm von Peter Davis, der im Mai 1974 in Cannes zur Welturaufführung kam und wenige Wochen später in Berlin im Internationalen Forum des Jungen Films gezeigt wurde. In den USA wurde er erst im Frühjahr 1975 gezeigt; monatelang hatte die Produktionsfirma Columbia Pictures sich geweigert, ihn herauszubringen. Und der damalige Sicherheitsberater der US-Regierung, Walt Rostow, hatte sogar versucht, den Kinostart per Gerichtsbeschluss zu verhindern.

„Hearts and Minds“ ist keine politische Analyse. Ohne ein einziges kommentierendes Wort sucht der Film eine psychologische Antwort darauf, wie es möglich ist, dass Bürger eines demokratischen Landes einen so brutalen Krieg führen und unterstützen. Die Montage aus Interviews mit hochrangigen Politikern und Militärs, vietnamesischen Bauern und amerikanischen Kriegsverletzten einerseits und den aus dem Fernsehen bekannten Kriegsbildern andererseits entfaltet eine ungeheure Wirkung.

Die bewegendsten Szenen in „Hearts and Minds“ indes sind die eher unspektakulären Beobachtungen am Rande. Ein vietnamesischer Schreiner nagelt einen Kindersarg aus grob gehobelten Brettern zusammen. Im Hintergrund stapeln sich noch mehr kleine Särge. Er selbst hat sieben Kinder im Krieg verloren, erzählt er. Die Kinder starben an dem Gift zur Entlaubung der Bäume. Nur mühsam bändigt er seinen Zorn: „Wie viele Jahrzehnte die Amerikaner auch Krieg führen, sie werden Vietnam niemals erobern.“ Die Szenen aus den USA wirken nicht weniger beeindruckend. Im Verkaufsraum einer Prothesenfabrik in New York probieren beinamputierte Vietnamveteranen ihre neuen Gehhilfen an und erzählen von ihren letzten Minuten als Soldaten auf dem Schlachtfeld.

Ungewöhnlich einmütig reagierte damals die Kritik. Variety, das Branchenblatt der US-Filmindustrie, ging nach der Premiere in Cannes (1974) davon aus, dass dieser „pazifistische Film ohne jegliche Hysterie“ sogar in den kommerziellen US-Kinos eine Chance hätte – „weil er nicht predigt, sondern auf fesselnde Art die Gründe für den Krieg erforscht“. In der weniger am Kassenerfolg orientierten Zeitschrift Cineaste hieß es im Herbst 1975: „Der Film enthält die wohl furchtbarste Zusammenstellung von Archivmaterial über den Krieg, die jemals in einem Dokumentarfilm gezeigt wurde. Allein dafür sollte man den Film sehen, um uns noch einmal daran zu erinnern, wie unmenschlich dieser Krieg wirklich war.“

Bis zum Schluss hält „Hearts and Minds“ die eigenwillige Mischung aus Ernsthaftigkeit und bitterer Ironie durch. Das letzte Bild aus Vietnam zeigt einen Friedhof mit frisch aufgeworfenen Gräbern. Dem folgen Straßenszenen aus den USA: Demonstrationen und Märsche, Kinder in Militäruniform mit dem Schlachtruf der Marines auf den Lippen. Ein als Uncle Sam kostümierter Teilnehmer einer Parade ruft in die Kamera: „Nicht alles ist schlecht. Lächelt! Lächelt!“ PETER HILLEBRAND