Pilotprojekt Medizin: Ran an den Speck

Die Studenten des Reformmodells lernen am Patienten. Die „Normalos“ pauken derweil den Zitronensäurezyklus ■ Von Katharina Born

„Das Bessere ist des Guten Feind. Wer um seinen Stellenwert in der Lehre bangt, willalles beim Alten belassen.“

Ohne Zögern tastet Saskia Christ (19) an der vernarbten Brust der schwer kranken Frau entlang, bis sie den Punkt gefunden hat, wo sie ihr Stethoskop ansetzen muss. Sie horcht kurz, bedankt sich und überlässt den Platz am Bett ihrem 20-jährigen Kollegen. In den weißen Kitteln sehen die beiden aus wie junge Ärzte. Sie sind es aber nicht.

Seit zehn Wochen studieren Saskia und die anderen Erstsemester im Reformstudiengang Medizin der Berliner Humboldt-Uni. Sie sind die ersten und einzigen Studenten einer öffentlichen deutschen Hochschule, die einen komplett alternativen Studiengang nach modernsten Methoden absolvieren.

Vorklinik- und Klinikbereich sind miteinander verzahnt. Statt des klassischen Studienbeginns im Anatomiesaal hat Saskia in der ersten Woche alles über einen typischen Oberschenkelbruch gelernt. Das diastolische Pfeifen eines Herzklappenfehlers wird sie auch bald hören können. Normalerweise kommen Medizinstudenten erst ab dem fünften Semester in einen solchen Genuss.

Doch daran gibt es auch Kritik. „So früh im Studium ist das nicht gerade sinnvoll“, sagt ein Kardiologe. Was aus dem Modellprojekt Reformstudiengang werde, müsse sich erst noch zeigen. Aber, sagt er gönnerhaft, die Fragen, die die Studenten gestellt hätten, seien durchaus nicht dumm gewesen. Selten, räumt er ein, habe er Studenten erlebt, die dermaßen stark motiviert seien.

Siebzig Prozent aller Studenten, die im vergangenen Sommer einen Studienplatz für Medizin an der Humboldt-Uni bekommen haben, hatten sich für den Reformstudiengang beworben. Die 63 Plätze wurden ausgelost. Nur eine Studentin ist bisher abgesprungen. Vielleicht deshalb, weil die Lernmethode besonders viel Eigeninitiative verlangt. „Manche denken, wir können machen, was wir wollen“, sagt Saskia. Sie betrachten unser Studium als „eine Art Sodom und Gomorrha“. Die Kritik reiche von „Elite“- bis „Barfuß“-Studium.

Im „Trainingszentrum für Ärztliche Fortbildung“, kurz TÄF, wie das englische „Skills-Lab“ hölzern übersetzt wurde, sitzen montagmorgens die sieben Studenten von Saskias Pol-Gruppe um einen Tisch. „Pol“ heißt die Methode des Reformstudiengangs, Problemorientiertes Lernen. Mit dem modernen Konzept hielten eben auch neue Wörter Einzug in den Studentenalltag.

In eine Ecke des engen Raumes hat sich Walter Burger gequetscht, Tutor und Leiter der Expertengruppe des Reformstudiengangs. Burger verteilt ein Fallbeispiel. Es geht um den 71-jährigen Herrn Stich, der beim Gassigehen mit seinem Hund plötzlich krampfartige Brustschmerzen und Atemnot bekam. Routiniert stellen die Studenten Fragen: Vorerkrankungen, Medikamenteinnahme, Lebensumstände? Gibt es ein EKG? Es gibt. Burger verteilt die EKG-Grafik, dann die Thorax-Röntgenaufnahme des Patienten. In einem Brainstorming sammeln die Studenten Fragen, die sich aus dem Fallbeispiel ergeben, daraus filtern sie die Lernziele. Die Studierenden des Regelstudienganges pauken derweil den Zitronensäurezyklus.

Bereits vor zehn Jahren entstand an der Berliner Charité ein erstes Konzept für den neuen, problembezogeneren Reformstudiengang. Doch erst nach dem Regierungswechsel konnte die AG Reformstudiengang Ministerin Andrea Fischer davon überzeugen, die politische Blockade durch die Approbationsordnung zu lösen. Burger spricht von „viel politischer Arbeit“.

In den Räumen der Zahnmedizin in Berlin-Mitte richteten sich im Herbst die ersten Studenten ein. Und sofort gab es Widerstand aus den eigenen Reihen. „Das Bessere ist des Guten Feind“, erklärt Burger die internen Widerstände. Gerade wer um seinen Stellenwert in der Lehre bange, wolle, dass zumindest inhaltlich alles beim Alten bleibe. Empört erzählt die Gruppe ihrem Tutor, eine Aushilfsdozentin habe beim Anatomiepraktikum gesagt, sie halte nicht viel von dem Modellstudiengang. Wenn die Studenten ihre Liste mit Lernzielen in der Anatomie nicht erfüllten, dann würden sie die Prüfung nie bestehen. Burger fragt: „Und, hat euch das verunsichert?“ Alle verneinen.

Etwa 15 Stunden in der Woche erarbeitet sich Saskia die Lernziele. Dazu kommen Seminare und Praktika. Donnerstags fährt Saskia frühmorgens nach Tegel zur Praxis der Allgemeinärztin Annette Nießing. Jedem Reformstudenten wurde eine Praxis zugeteilt. Routiniert schlägt Saskia die Manschette um den Arm eines Patienten, pumpt und hört den Blutdruck ab. „Hundertvierzig zu neunzig.“ Die Ärztin ist zufrieden. Saskia erfährt bei ihr alles über die täglichen Praxisabläufe und typische Behandlungsmethoden. Junge Berufsanfänger, „die mit Kanonen auf Spatzen schießen“, hat Annette Nießing schon oft erlebt. „Es ist gut, gleich am Anfang auch etwas über die Wirtschaftlichkeit zu lernen.“

Am Freitagmorgen hat sich der Lerngruppenraum des TÄF in ein Behandlungszimmer verwandelt. Saskias Pol-Gruppe hat beschlossen, sich vor dem Unterricht gegenseitig Blut abzunehmen. Ein künstlicher Übungsarm steht für sie bereit. Mit verschiedenen Kanülen bohren die Studenten daran herum, bis sich keiner von ihnen mehr traut, beim andern zuzustechen. Die Hände zittern, Saskia rutscht ab, bohrt sich versehentlich die Nadel in den Finger. Alle lachen, und als Burger kurz hereinschaut, freut er sich über das produktive Chaos. Dann trifft Saskia trotz verletzter Hand doch noch Jans Vene. Am Nachmittag werden die Ergebnisse der Woche besprochen. Burger resümiert zufrieden: Er habe während seines eigenen Studiums länger gebraucht, bis er ein komplexes Thema so durchschauen konnte. „Und Spaß hat es mir damals schon gar nicht gemacht.“