Attraktive Lücken

Susanna Niederer stellt ihre Liebezur Ellipse im Museum Wiesbaden aus

Die Ellipse blieb immer Außenseiterin im Gefüge der perfekten und perfekt erklärbaren Modelle Kreis, Quadrat und Dreieck. Und sie blieb eine Form, die eher von Außenseitern bevorzugt wurde. Aby Warburg ließ seine Hamburger Bibliothek bekanntlich auf den Grundriss einer Ellipse bauen, und immer wieder werden Werke von Künstlern, die man kaum versteht, aber für sehr bedeutend hält, mit dem Adjektiv elliptisch umschrieben.

Die 1958 geborene Schweizer Künstlerin Susanna Niederer beschäftigt sich seit Anfang der Achtzigerjahre mit der Ellipse. Die Leere, das Nichts, die Lücke, der Mangel – die etymologische Spurensuche erbringt reiche Beute, und auch all die damit verbundenen Konnotationen haben Niederers erstaunlich ausdauernde Auseinandersetzung mit der geometrischen Grundform vorangetrieben.

Für Niederer gewinnt die Ellipse aber nur dadurch so große Attraktivität, weil sich zu der sprachlichen Bedeutung des Auslassens die symbolische Bedeutung der Synthese stellen lässt. Und da bekommt ihr geduldiges Ausloten einen wahrhaft renaissanceartigen Zug: Die Ellipse ist für Niederer das Zeichen, mit dem sie als bildende Künstlerin ihr Interesse an Musik und Literatur zu artikulieren versucht, das den Gattungen Gemeinsame darzustellen. Die Ellipse ist für sie ein Ort „der zu erahnenden Pass-Stellen“ zwischen den Künsten.

In Wiesbaden hat man jetzt in einer umfangreichen Ausstellung die Möglichkeit, Niederers Ellipsenforschung in extenso nachzuspüren. Neben rhythmisch angeordneten Ovalfiguren auf Papier oder Aluminium und schräg durchgesägten Kunststoffrohren, aus deren Rändern sich Ellipsen ergeben, benutzt Niederer vor allem den Raum. Den größten Eindruck macht dabei „Chopin, mit Stillen versehen“ (1994): Die Kuppel des Raums ist mit Seilen durchspannt, an denen die einzelnen Notenblätter der Mazurkas des Komponisten hängen. Diese hat Niederer nun mit roten Ellipsen versehen. Man hört eine Aufnahme der Stücke, die immer dort unterbrochen ist, wo die Künstlerin ihre Leerstellen, ihre „Stillen“, eingesetzt hat. Die Pause, ohne die Musik nicht denkbar wäre, der Freiraum, ohne den es keine Notation und keine Schrift gäbe, verselbständigt sich. Martin Pesch

Susanna Niederer, bis 27. 2., Museum Wiesbaden