Musik hat mich gerettet“

■ Der britische Musikjournalist David Toop beschreibt Pop als Melting Pot der Ideen. Der Musiktheoretiker im Gespräch über die Faszination an fremden Welten in den Fünfziger Jahren, über Sound und Identität und die Exotik des HipHop

taz: In Ihrem neuen Buch geht es um bekannte Vertreter exotischer Musik wie Les Baxter oder Yma Sumac. Aber beim Lesen drängt sich der Eindruck auf, als ginge es Ihnen ganz allgemein um die Darstellung von Musik als einem Terrain, auf dem sich ständig einander fremde, eben exotische Stile gegenseitig beeinflussen.

David Toop: Ich habe Musik immer als etwas Exotisches empfunden, im weitesten Sinn. Als ich als Kind Radio hörte, zog mich die Musik heraus aus meiner damaligen Umgebung, die ich ziemlich langweilig fand. Als ein Fernseher ins Haus kam, das war in den Fünfzigern, habe ich eine Menge über Exotisches fantasiert: tropische Inseln, Indien, der Wilde Westen, Outlaws, die im Wald leben, et cetera. Die dazugehörige Musik, die Soundtracks waren ein lebendiger Teil dieser Fantasien. Der Abschnitt über den Blues in „Exotica“ ist sehr wichtig für mich. Das Exotische am afroamerikanischen Blues für mich als Teenager, der in den Sechzigern in einem Subburb Nordlondons lebt, hatte für mich eine große Bedeutung. Als ich das Buch schrieb, war Les Baxter eher ein Mittel, um das Themenspektrum zu erweitern, als überhaupt in das Thema zu finden.

Das Aufkommen populärer Musik, in der Klischees des Fremden, Exotischen verarbeitet werden, ging einher mit dem Aufklappen der Schere zwischen Erster und Dritter Welt. Wurde da popmusikalisch die angebliche Überlegenheit der westlichen Gesellschaftsform verarbeitet?

Das sicher auch. Ich bin sehr interessiert an der Beziehung zwischen Musik und Identität. Jede Analyse des Exotischen muss mit der Vorläufigkeit von Identität zu tun haben, weil das Exotische ein Ungenügen an dem repräsentiert, was wir sind und wo wir leben. Es repräsentiert gleichzeitig ein willentliches Missverständnis dessen, was andere sind und wo sie leben. Uns selbst mit Musik zu beschäftigen, die radikal anders ist gegenüber dem, was man zuvor gehört hat – sei es in ihrer Struktur, ihrem Sound, ihren sozialen wie psychologischen Absichten –, heißt, etwas über eine neue Identität zu lernen. Die Zerstörung des Bikini-Atolls durch Atombombenversuche in den Fünfzigern beim gleichzeitigen Erfolg von Musik, in der südpazifische Exotik auftaucht – das ist natürlich ein negatives Gegenbild dazu.

Betrachtet man Popmusik heute, scheint es, dass die jeweilige Herkunft und Geschichte immer unwichtiger werden. In Ihrem Buch „Ocean Of Sound“ greifen Sie Michail Bachtins Begriff des Chronotopos auf und betonen die Gleichzeitigkeit aller Stile und Genres.

Vielleicht ist meine Analogie zum Chronotopos etwas zu einfach, aber ich denke schon, dass sich heutige Musiktrends in diese Richtung bewegen. Der Begriff von Livemusik verblasst seit einiger Zeit, und Musik wird immer mehr zur Konstruktion einer Idee, verbunden mit der Beherrschung von Technologie. Das hat immer weniger zu tun mit der physischen Präsenz von Musikern. Musikmachen ähnelt immer mehr einem Kuratieren verschiedenster Ressourcen. Man kann es in Echtzeit probieren, aber das gleicht einem Abspulen vergangener Rituale und ist kaum mehr dem wirklichen Bedürfnis geschuldet, die einzigartigen Erfahrungen zu machen, die zum Liveauftritt gehören. Geografie und Geschichte sind allerdings weiterhin wichtig. Zum Beispiel würde etwas fehlen, wenn man die gerade aktuelle Szene elektronischer Musik in Köln ohne die dortige Entwicklung während der letzten dreißig Jahre betrachten würde. Heute kommt eben das Phänomen hinzu, dass sich die in Köln gemachten Errungenschaften sofort weltweit replizieren und ihren Ort und ihre Zeit verlieren.

Kann man dann sagen, dass so etwas wie künstlerische Qualität heute nur noch daran zu messen ist, wie clever eine Mixtur angerichtet wird?

Das ist ja schon lange keine Gegensatz mehr. Ästhetische Urteile zu fällen wird aber immer schwieriger und ist gleichzeitig notwendiger denn je, einfach weil es so viel Musik gibt. Ich halte mich dabei an meine Hörerfahrung und versuche, nicht einer Theorie zu folgen.

In Ihren Büchern erwähnen Sie das Gamelan-Konzert javanischer Musiker bei der Pariser Weltausstellung 1889 als ein Ereignis, das die Grundfesten abendländischer Musik erschütterte. Gab es in Ihrem Leben ein vergleichbar bedeutendes musikalisches Ereignis?

Ich war um die 20, als ich begann, Musik aus Indien, Japan, Bali, Afrika und Papua-Neuguinea zu hören. Und das war natürlich eine Erweiterung meiner Hörerfahrung. Dieses Neuartige verursachte zwar einen kräftigen Schub für meine Vision, was Musik alles sein kann, aber diese „erweiterte“ Auffassung von Musik hatte ich eigentlich schon vorher, vielleicht schon als 14-Jähriger, der mit Gitarrennoise in einer Bluesband herumexperimentierte. Eine neue Welle des Exotischen war für mich HipHop. Insofern ist „Rap Attack“ natürlich auch ein Buch über das Exotische, der Versuch, es mir selbst zu erklären. Das alles hat mir schon eine Außenperspektive gegeben, die ich für sehr wertvoll halte. Zumindest solange sie von einer Innenperspektive begleitet wird.

Diese Innenperspektive kommt bei Ihnen durch einen eigenwilligen Stil zum Tragen. Sie verzichten auf den Cultural-Studies-Jargon, Sie arbeiten ohne wissenschaftlichen Fußnotenapparat. Und Sie bringen immer wieder sich selbst als Person ins Spiel. Am Anfang von „Exotica“ erwähnen Sie den Selbstmord Ihrer Ehefrau. War die Arbeit an diesem Buch der Versuch, etwas Unfassbares zu verstehen?

Es gibt tatsächlich eine sehr tiefe Beziehung zwischen „Ocean Of Sound“, „Exotica“ und dem Selbstmord meiner Frau, über die ich auch nicht sprechen kann, außer dass die Arbeit an „Exotica“ so etwas wie eine Katharsis war – der Versuch, musikalisch Fremdes mit extremen emotionalen Erfahrungen zu verbinden. Es war unmöglich, die Wirkung dieses schrecklichen Ereignisses auf mein Denken und meine Arbeit nicht anzuerkennen. Am Anfang des Buches versuche ich, das so ehrlich wie möglich darzustellen: meinen Weg zurück zur Musik. Musik war für mich ein Mittel des Überlebens, und „Exotica“ ist ein Teil davon. Die Herausforderung bestand darin, diesen Prozess für andere, für die Leser, interessant zu machen, ohne in einem Morast von Offenbarungen zu versinken, die man besser für sich behält.

Sie sind Vater, Sie haben Freunde, Sie veröffentlichen Platten, Sie treten live auf, Sie sind Buchautor und Journalist, der aus einem unendlichen Archiv von Musik und Literatur zu schöpfen scheint. Wie passt das alles in einen Tag?

Ich bringe jeden Morgen meine Tochter zur Schule, danach beantworte ich Briefe, E-Mails oder mache Verwaltungskram. Dann folgt die Arbeit am jeweils dringendsten Projekt, das kann ein Artikel sein oder ein Musikstück. Um drei Uhr nachmittags hole ich meine Tochter ab und arbeite noch etwas bis zum Abendessen, das ich zubereite. Danach bringe ich meine Tochter zu Bett, wenn ich Lust habe, arbeite ich noch ein bisschen oder versuche, mich zu entspannen. Ich habe kaum Zeit, um mal „nichts“ zu tun oder nur „einfach so“ mal ein Buch zu lesen oder eine Platte zu hören. Ich versuche zwar, so viel aktuelle Musik wie möglich zu hören, aber die Tage sind lange vorbei, in denen ich den Eindruck hatte, einen Überblick über das zu haben, was so läuft. Auch wenn ich reise, hat es meistens mit meiner Arbeit zu tun, und ich bedaure sehr, dass es fast keine Gelegenheit gibt, eine fremde Umgebung um ihrer selbst willen kennen zu lernen. Sie sehen, ich führe ein sehr eingeschränktes Leben. Es ist allerdings sehr vielseitig und sehr inspirierend.

Interview: Martin Pesch
‚/B‘ Lesereise: 19. 10. Wien (Rhiz), 20. 10. Linz (Uni), 21. 10. Ulm (Roxy), 22. 10. Basel (Kaserne), 23. 10. Zürich (Rote Fabrik), 24. 10. Bern (Café Kairo), 25. 10. Konstanz (K 9)