Das Pfeifen im Halbdunkeln

Das Leben geht vorbei, während du damit beschäftigt bist, andere Dinge zu erledigen: Das erste „Festival del Cine Cubano“ im Kino Balázs  ■ Von Bettina Bremme

Havanna sehen und sterben, das ist das Schicksal eines deutschen Touristen in dem Film „Kleines Tropicana“. Als Vogel verkleidet, stürzt Hermann Pangloss während einer orgiastischen Fete vom Dach. Doch keiner der illustren Gäste will etwas gesehen haben. Der junge kubanische Polizist Lorenzo Columbio heftet sich an die Spuren des Toten. Pangloss, Sohn eines Deutschen, der in den Vierzigern nach Havanna kam, und einer kubanischen Kabarettänzerin, war auf der Suche nach seiner verschollenen Mutter. Für Lorenzo vermischen sich immer mehr Fakten und Fiktion. Er glaubt zwischen sich und dem verblichenen Deutschen eine Verwandtschaft zu erkennen.

Daniel Diaz Torres, der Regisseur der deutsch-kubanischen Produktion „Kleines Tropicana“, und Hauptdarsteller Peter Lohmeyer kommen heute Abend zur Eröffnung des „1. Festival del Cine Cubano in Berlin“. Die Voraufführung ihres Films bildet einen der Höhepunkte des Festivals, das bis zum 1. September im Balász läuft.

Der Regisseur von „Alicia am Ort der Wunder“ (1991), der auf Kuba jahrelang verboten war, bewegt sich mit „Kleines Tropicana“ auf der Grenze zwischen Satire und lustvollem Nonsens. Nichts ist so unmöglich, dass es nicht denkbar wäre. Das Deutschlandbild ist hemmungslos operettenhaft. In schwarzweißen Rückblenden rafft es Nazis aus der „Abteilung für okkulte Wissenschaften des 3. Reiches“ in expressionistischen Verrenkungen dahin, als sie im Selbstversuch ein Elixier probieren. Und am Ende hängt das ganze Filmpersonal auf haarsträubende Art zusammen – doppelgesichtige Väter und als Schwarzwaldmädel verkleidete Kubanerinnen inbegriffen.

Dagegen ist der Unterton von Fernando Pérez' neuestem Film von zärtlicher Melancholie durchzogen. In „La vida es silbar“ (Das Leben ist Pfeifen) geht ein rätselhaftes Phänomen um in Havanna. In den Patios der Altstadt, in den Schlangen vor den Lebensmittelläden oder an der Strandpromenade, dem Malecón: Da, wo Liebespaare wie die Vögel auf der Stange sitzen, sinken plötzlich Leute in Ohnmacht, wenn bestimmte Reizworte an ihr Ohr dringen: zum Beispiel „Freiheit“. Oder „Doppelmoral“. Der Altenpflegerin Julia wird immer beim Wort „Sex“ schwindelig. Der Balletttänzerin Mariana, die sonst die Männer mit den Augen auszieht, verschlägt eine unverhoffte Begegnung den Atem. Und Euripidio fällt plötzlich die große Liebe fast buchstäblich auf den Kopf.

In „Das Leben ist Pfeifen“ sind sie kaum zu trennen: die Sehnsucht nach der Wahrheit und die Panik davor, die Suche nach dem Glück und die Furcht davor. Frei nach dem John-Lennon-Zitat „Das Leben geht vorbei, während du damit beschäftigt bist, andere Dinge zu erledigen“ laufen und taumeln die Hauptfiguren durch Havanna.

Wenn sie glauben, unmittelbar vor dem Ziel zu sein, ist das Objekt der Begierde gerade schon wieder um die nächste Ecke gebogen. Auch Pérez' vor Symbolen übersprudelnde Bildsprache entzieht sich immer in letzter Sekunde simplen Deutungszugriffen. Das gilt auch für die politische Metaphorik, die trotz zahlloser Anspielungen auf die Situation in Kuba immer wieder die Kurve ins Philosophische kriegt. „Ich möchte, dass man mich pfeifen lässt, wie ich will“, erklärt Pérez schlicht und vielsagend.

In Pérez' „Madagascar“ von 1994 lässt noch eine bleierne Schicht aus Pessimismus die einen erstarren und treibt die anderen in eine eskapistische Fantasiewelt. „Das Leben ist Pfeifen“ beginnt genau in diesem Niemandsland aus Apathie und unterdrückter Wut. Doch der Grundton ist dieses Mal spielerischer, experimenteller. „Das Leben ist Pfeifen“ war 1998 der einzige kubanische Spielfilm, der ohne ausländische Beteiligung entstehen konnte.

Einer der wenigen jungen Regisseure, die in den letzten Jahren einen abendfüllenden Spielfilm realisieren konnten, ist der 1967 geborene Arturo Sotto: „Amor vertical“ – „Liebe in der Vertikalen“. Hinter dem prosaischen Titel verbirgt sich eine romantische Komödie um die Liebe in den Zeiten realsozialistischer Notstände.

Dreh- und Angelpunkt sind die Versuche eines jungen Paares, ungestört Sex zu haben. In Havanna gibt es keine Freiräume: Ob hellhörige Zimmer im Hause nerviger Verwandter, einstürzende Altbauten oder stecken gebliebene Fahrstühle, die sich im falschen Moment wieder in Bewegung setzen – Sotto spielt eine ganze Palette von Interruptus-Faktoren durch. Auch mit dem Innenleben der Figuren steht es anfangs nicht zum Besten. Angeödet schlägt Ernesto (Jorge Perugorria aus „Erdbeer und Schokolade“) seine Zeit als Anstaltspsychiater tot. Ansonsten vertreibt er sich die Zeit damit, so viele Frauen wie möglich in die Horizontale zu bewegen. Bis eines Tages die Architekturstudentin Estela mit aufgeschnittenen Pulsadern bei ihm landet. Estela ist eine Träumerin. Ständig erfindet sie die abgedrehtesten architektonischen Modelle.

Bei den Baubehörden prallen Estelas Entwürfe gegen Gummiwände. Die Szenen, wo sie in einem Großraumbüro ansteht, wimmeln von Anspielungen an Tomás Gutiérrez Aleas satirischen Klassiker „Tod eines Bürokraten“ von 1966. Im kubanischen Filmuniversum gehören kafkaeske Graumänner in Form von staatlichen Bestattungsunternehmern oder Leichentransportlogistikern (“Guantanamera“) zum lebendigen Inventar.

In „Amor vertical“ kontrastieren Gesellschaftssatire und hemmungslose Romantik. Als Ernesto und Estela sich außerhalb von Havanna aus alten Holzplanken ein privates Wolkenkuckucksheim bauen, reagiert die Umgebung hysterisch. Ernestos Exfreundin Lucia rückt an und klagt das ein, was sie für ihr Recht hält: „Du schuldest mir zwei Wochen Liebe.“

Lucia hat die undankbarste Rolle in dem Film. Die gesellschaftlich etablierte und nicht mehr ganz junge Frau trägt den Namen, der für das Bild von der revolutionären Kubanerin steht: In Humberto Solas' Meisterwerk „Lucia“ (1967) heißen drei Heldinnen aus drei Generationen so. Ihre Geschichten stehen für Verunsicherung und Verzweiflung, aber auch für Emanzipation und Aufbruch. Dagegen wirkt die Lucia aus „Amor vertical“ wie ein erstarrter Schatten ihrer selbst.

Ernesto und Estela landen zum Schluss wieder in einer der Hauptstraßen von Havanna, in der Nähe der berühmten Eisdiele „La Coppelia“, wo der schwule Lebenskünstler Diego sich in „Erdbeer und Schokolade“ an den Jungkommunisten Sergio heranmacht. Und einen Katzensprung von der Strandpromendade entfernt, wo nicht nur in „Das Leben ist Pfeifen“ die Leute den Tag einen guten sein lassen. Auch die Tatsache, dass Pérez für das Finale von „Das Leben ist Pfeifen“ die Plaza de la Revolución wählt, wo seit vierzig Jahren die traditionellen Jubelfeiern stattfinden, deutet eine andere Flucht nach vorne an als die nach „Madagascar“ oder Miami.

Wohin das Pfeifen im Halbdunkeln führt, hängt bekanntermaßen nicht nur von den KünstlerInnen, sondern auch von den ChefdramaturgInnen der politischen Szenerie ab. Viele kritische Geister hat der kubanische Staat schon vergrault. Auf die Frage, welches Genre er wählen würde, um das Filmemachen auf Kuba zu beschreiben, meint Daniel Diaz Torres: „Auf jeden Fall eine Tragikomödie – eine bitter-sweet comedy.

Das Filmemachen auf Kuba hat viel mit diesem Genre zu tun. Ein Drama würde ich mir selbst nicht abnehmen.“

Von heute bis zum 1. 9., Balázs, Karl-Liebknecht-Straße 9, Mitte; Termine siehe cinema-taz