Große Meisterin

Der Buddhismus lehrt: Alles ist ständige Veränderung und nichts ist Zufall. Die koreanische Zen-Meisterin Dae- Haeng Keun Sunim, Begründerin des HanMaUm-Seon-Zentrums bei Seoul, suchte zwanzig Jahre lang in den Bergen und Wäldern Koreas das „Wahre Selbst“, fand es und legte in Düsseldorf erstmals in Europa öffentlich ihre Lehre dar. Über eine der wenigen Frauen in einer männerdominierten Glaubenskaste  ■ Katharina Born

Plötzlich muss alles ganz schnell gehen. Die Mikrofone stehen, die Kamera läuft, denn die Meisterin rückt sich schon auf ihren Kissen hinter dem niedrigen Holztisch zurecht. Die Beine verschränkt die 73-Jährige unter einem fast transparent groben Gewand mit dem braunen Buddha-Überzug. Der kahle Kopf ruht an einem nach hinten hochgeschlossenen Steifkragen. Ihr Mund verzieht sich in leichtem Unbehagen. Die schmalen Augen wirken tiefschwarz, versteinernd, wenn ihr Blick trifft.

Oder ist es die Ehrfurcht der Nonnen, die in grauen, die Abwesenheit von Dualität repräsentierenden Gewändern herumhuschen? Es sind Leiterinnen anderer Zentren, die ausgewählt wurden. Nur sie durften in das deutsche Zentrum in Kaarst bei Düsseldorf kommen – aus Korea, Argentinien, den USA –, Keun Sunim, die Große Meisterin, zu hören, wenn sie erstmals in Europa öffentlich spricht. Jetzt spitzen sie die Ohren, um keines ihrer Worte zu verpassen, und bedeuten den Besuchern so, dass hier Gedanken von unschätzbarem Wert zu vernehmen sind.

Der Dolmetscher hat Probleme. „Die Leerheit ist voll, weil es zu voll ist. Freiheit ist Leerheit“, übersetzt er. Dae-Haeng Keun Sunim wiegt sich ein wenig. Wenn sie über die Erleuchtung spricht, wird ihre Sprache zum Gedicht – parallele Strophen, klingende Rhythmen, die Glucks- und Hauchlaute des Koreanischen, eingeweicht in einem fließenden Gesang.

„In Deutschland steht die materielle Sicht der Dinge viel zu sehr im Mittelpunkt. Um die Buddhanatur, das Wahre Selbst in uns, wahrzunehmen, müssen wir sterben“, sagt sie. Mit Sterben meint Dae-Haeng Keun Sunim, das eigene „Ich“ durch Versenkung zu überwinden. Mit Sprache ist das kaum zu erklären. Die Große Meisterin versucht es mit einer Geschichte – natürlich der Geschichte ihrer eigenen Erleuchtung.

Zur Zeit der japanischen Besatzung Koreas, 1926, als Tochter eines hochrangigen Offiziers der kaiserlichen Armee geboren, erlebte sie, wie der Besitz der Familie beschlagnahmt wurde. Der Vater ließ seine Wut über Armut und Hunger an der ältesten Tochter aus. Seit sie neun Jahre alt war, entging Dae-Haeng Keun Sunim seinen Übergriffen nur, indem sie die Nächte in den Wäldern verbrachte.

Sie glaubte, sterben zu müssen, um die Sehnsucht nach Liebe zu stillen, und verließ ihre Familie. Aber als sie sich von einer Klippe in den Fluss stürzen wollte, geriet sie in tiefe Versenkung. Der Fluss, sie selbst und die Liebe, die sie suchte, bildeten plötzlich eine Einheit. „Nachdem ich den Dharma, das kosmische Gesetz, erkannt hatte, wusste ich, das Buddhas Mitgefühl und Liebe auch jemanden wie mich erreichen konnte, und ich weinte voller Dankbarkeit.“

Nach Jahren der Einsamkeit und Askese, der Wurzeln, Pilze und Blätter, wurde sie mit 24 vom bedeutendsten koreanischen Zen-Meister seiner Zeit, Han-Am Keun Sunim, ordiniert. Aber die Verwüstungen des Koreakrieges führten Keun Sunim nach seinem Tod 1951 zurück in die bergige Wildnis. Kälte, Hunger, Krankheit spürte sie kaum noch. Ihre innere Stimme wurde zu Buddha, zu einem Liebhaber, zu einer Mutter. Sie erreichte die absolute Leere, sie war innen und außen und konnte sich in alle Richtungen neigen. Sie war Leben und Tod, und jenseits von Körper und Materie lag eine enorme Kraft. So weit die Heilsgeschichte.

Die Mönche vieler buddhistischer Tempel hielten Keun Sunim für verrückt, in den Dörfern wurde sie verspottet. Aber sie konnte mit Hilfe ihres Geistes Krankheiten heilen, und bald beschloss sie, andere Menschen in ihren Entdeckungen zu unterrichten.

Zu dem halb verfallenen Bergkloster, in dem sie sich niederließ, kamen immer mehr Hilfe- und Wahrheitsuchende. Die brachten praktischerweise Opfergaben, und nach wenigen Jahren konnte sie das Kloster erneuern.

In Anyang bei Seoul begründete Dae-Haeng Keun Sunim 1972 als eine der wenigen weiblichen Zen-Meister Koreas das HanMaUm-Seon-Zentrum. Es heißt, eine Frau müsse mindestens dreimal als Mann reinkarniert werden, um überhaupt die Möglichkeit der Erleuchtung zu erhalten. Eigentlich dürfen Frauen in Korea nur Frauen unterrichten. Dae-Haeng Keun Sunim setzt sich über diese Regel hinweg.

Auf die Rolle der Frau im Buddhismus angesprochen, lächelt Keun Sunim mit beschämendem Verständnis. „Äußerlich kann man so viele Unterscheidungen treffen, wie man möchte, aber im Inneren, in der Wurzel ist alles gleich“, sagt sie. Die Meisterin wirkt jetzt ganz entspannt und voller Wärme für ihre Zuhörer. „Die Erde ist ein Bus. Die Leute streiten sich um die Sitzplätze, dabei wissen sie nicht einmal, wohin es geht.“ Sie nickt gewichtig, hebt einen Finger an die Brust. „Die Probleme entstehen daraus, dass wir der materiellen Welt zu viel Gewicht beimessen.“

Heute hat ihr Zentrum fünfzehn Zweigstellen in Korea, sieben weitere in Thailand, den USA, in Kanada und Argentinien. Die Tempeldependance in dem vorstädtischen Kaarster Bungalow mit Goldfischteich und Blumenpracht weihte sie 1996 ein.

Keun Sunim zögerte nicht, die alten, schwer verständlichen Schriften in neue Sprache zu übersetzen. Geschäftstüchtig begründete sie den größten buddhistischen Buchladen Koreas. Sämtliche Büros der Zentren sind mit der neuesten Technik ausgerüstet und selbstverständlich im Internet präsent. Es sei keine Lösung, die moderne Technik zu ignorieren, sagt die Meisterin, gerade angesichts der ökologischen Krise. Ihrem 1996 gegründeten Institute for Mind Science gehören inzwischen 128 Hochschulprofessoren und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen an, die sich mit der Verknüpfung von traditioneller asiatischer Medizin und Schulmedizin beschäftigen, mit neuen Arten der Energieübertragung und –speicherung sowie mit Managementmethoden. „Man muss die geistige, innere Welt entdecken, um in der materiellen etwas zu erschaffen.“

Für Keun Sunim ist die Versenkung Teil des Alltags. Anders als andere Ordensbegründer rät sie, nicht im Sitzen zu meditieren, sondern bei allem, was man tut. So können sich ihre Anhänger auch im Beruf erleuchten lassen. Und es erscheint nicht abwegig, dass die jahrelange Konzentration auf das Wahre Selbst und die Einheit von materieller und geistiger Welt Vorteile verschaffen kann. Es heißt, der Mensch wachse an den Problemen, die das Leben bietet. Und diese könne man vertrauensvoll dem Allgeist JulnGong, der Buddhanatur, zur Lösung überlassen. Eine junge Berlinerin drückt es so aus: „Man soll ruhig viel verdienen, man darf nur nicht am Besitz festhalten. Alles muss fließen.“

Für ihr erstes öffentliches Dharma-Teaching in Europa gab die Große Meisterin den Mitarbeitern in Kaarst eine Zahl von 1.500 Menschen vor. Jene bekamen einen gehörigen Schreck. In der Gemeinde finden sich sonntags regelmäßig nur etwa vierzig Besucher ein. Endlich fanden sie die Stadthalle Ratingen, die 1.500 Menschen fasst. Und in den letzten Wochen klebten und verteilten sie Plakate und Zettel in der ganzen Umgebung vom Kung-Fu-Club bis zur Bushaltestelle. Wie so oft, wenn man mit Keun Sunim zu tun hat, lief dann irgendwie alles wie von selbst – von der Anstrengung der Mitarbeiter abgesehen. Selbst als einen Tag vor der Veranstaltung alle in Panik den Keller des Zentrums umgruben, weil 160 Übertragungsgeräte für die Simultanübersetzung fehlten, wusste die Meisterin Rat.

„Die Lösung ist in Ratingen“, sagte sie, und siehe da, man hatte sich nur verzählt.

In ihren traditionell knallbunten Gewändern, ausgestattet mit Headsets und Funkgeräten, verbeugen sich die Mitarbeiter des HanMaUm-Seon-Zentrums mit gefalteten Händen vor jedem Neuankömmling, andere verteilen lächelnd Werbegeschenke mit dem Logo des Ordens an die verdutzten Besucher. Neben einfach Neugierigen und Esoterikinteressierten kommen Busse mit Buddhisten aus ganz Deutschland zu der Veranstaltung, auch ein paar dicke Autos fahren vor.

Dae-Haeng Keun Sunim sagt, der Buddhismus sei keine beliebige Religion. Ihn zu praktizieren bedeute, die Wahrheit in uns zu suchen – jenseits aller Begrifflichkeiten. „Buddha, Allah oder Gott sind nur Namen, die auf die Wahrheit hinweisen. Wir sollten dahin gehen, wo diese Namen herkommen, denn dort können wir unser Wahres Selbst finden.“ Das neue westliche Interesse am Buddhismus komme durch die Übertragung der Ideen aus dem Inneren zustande, die Buddhas Wahres Selbst, das „HanMaUm“, berührten. Sie selbst, sagt Dae-Haeng Keun Sunim, gehe mit dem Wind. Und der Wind habe nun eben Deutschland erreicht.

Das Publikum in der dicht gefüllten Stadthalle Ratingen hält die Luft an, als sieben Koreanerinnen die Teezeremonie vorführen. Nicht einmal die Hälfte der Besucher sind Asiaten. Junge, Alte, Fremde, Nachbarn – einige verbeugen sich noch leicht verschämt, wie es die Buddhisten tun, andere singen schon routiniert die Bitte um Unterweisung durch die Meisterin auf Koreanisch mit.

Wie Buddha einst sprach: „Das Leben ist ein Ozean des Leidens.“ Wen wundert es da, dass die Aussicht auf Befreiung von der ewigen Wiedergeburt, von dem Fluss von Ursache und Wirkung, so viele hierher lockt.

Ob neugierige Nachbarn des HanMaUm-Zentrums Kaarst oder Zen-Buddhisten aus Hannover-Herrenhausen. „Dass wir uns so begegnen und wahrnehmen“, hat Dae-Haeng Keun Sunim einmal gesagt, „das steht in einem Zusammenhang von weit her.“ Zufälle? Gibt es nicht.

Katharina Born, 26, aus Berlin, arbeitet fürs Deutschlandradio und schreibt über Gesellschaftsthemen.