Wie der Westen den Osten erfand

Die geteilte Erinnerung Was fünfzig Jahre bundesdeutsches Grundgesetz mit Dederonbeuteln aus der DDR und den Schwermetallrockern von Rammstein zu tun haben. XXVIII. und letzter Teil der Serie „50 Jahre neues Deutschland“ mit einigen Anmerkungen zum Stand des Ost-West-Konflikts  ■ von Jens König

Da hängt die ganze DDR auf der Leine. Einkaufsbeutel aus Dederon. Brav und diszipliniert wartet einer hinter dem anderen. Sie sind so bunt, wie das Leben früher war: senfgelb, rotbraun, mausgrau, gemustert mit grellen Punkten oder kitschigen Blumen, mit Ananasstücken oder kleinen Punkten. Keiner sieht aus wie der andere. Ein kleiner, stiller Triumph der Individualität über den staatlich produzierten DDR-Einheitslook?

Für Iris Kettner sind die Dederonbeutel Kunstobjekte. Über hundert von ihnen hat sie an Stahlseile geknüpft und in einen Laden in der Berliner Karl-Marx-Allee gehängt. Von einem kleinen Motor angetrieben, ruckeln die Seile alle zehn Sekunden ein paar Meter weiter. Eine spazierende Einkaufsschlange. Die Beutel müssen geduldig sein und Ausdauer haben – Eigenschaften, die auch jeder DDR-Bürger besitzen mußte, wenn er beim Kampf um Bananen, Lizenzschallplatten oder vietnamesische Bastmatten irgendwann einmal erfolgreich sein wollte. Und ein Utensil war für die meist nicht vorhersehbaren Bewährungsproben in der tristen ostdeutschen Konsumwelt unerläßlich: der Dederonbeutel. Fast alle hatten ihn jeden Tag bei sich – falls es außerhalb der Weihnachtszeit überraschend Apfelsinen gab. Zum Beispiel.

Iris Kettner ist fasziniert von den Dederonbeuteln. Sie sind für sie ein Teil der ostdeutschen Alltagskultur, die langsam aus dem Bild der Städte verschwindet. Die 31jährige, im Ruhrgebiet aufgewachsen, kam 1991 nach Halle, wo sie an der Hochschule für Kunst und Design studierte. Damals fielen ihr die Beutel auf, weil sie so bunt und auffällig gemustert waren. Seitdem spricht sie die Leute an und überredet sie, ihre Dederonbeutel mit ihr zu tauschen. Dabei hört Iris Kettner oft die kuriosesten Geschichten. „Ich habe viel vom Leben in der DDR gelernt“, sagt sie. Es klingt wie eines dieser vielen Ost-West-Klischees – aber es ist vermutlich die Wahrheit.

Bei den Feiern zum fünfzigjährigen Bestehen des Grundgesetzes spielten die Dederonbeutel keine Rolle. Wie auch. Die Erinnerung an fünfzig Jahre Deutschland ist eine Erinnerung an fünfzig Jahre Westen, vor allem an seine Erfolgsgeschichte. Die DDR kommt fast nicht vor, und wenn, dann nur, weil sie nicht mehr existiert.

Diese Selbstinszenierung der alten Bundesrepublik beweist noch einmal, wie richtig die Erkenntnis ist, daß den Westdeutschen Italien schon immer näher war als Ostdeutschland, wo ihre Brüder und Schwestern lebten. Das Desinteresse am Osten ist heute sogar noch größer als vor zehn Jahren. Denn für die Westdeutschen stand nicht etwa 1990, sondern steht erst heute die alte Bundesrepublik wirklich in Frage – mit dem Abschied von Bonn scheinen sie den Ort ihrer politischen Selbstverständlichkeiten zu verlieren. Ein Hauch von Nostalgie weht übers Land und vermischt sich mit der bangen Frage, ob denn Berlin, das ja zur Hälfte Osten ist, noch den vertrauten Westen verspricht, an den man sich so gewöhnt hat. In diesem Moment entdecken die Westdeutschen zwar die alte Bundesrepublik nicht neu, aber sie vergewissern sich noch einmal dessen, was ihnen unverzichtbar ist, sie vergewissern sich ihrer Vergangenheit.

Das vereinigte Deutschland ist also nicht nur politisch, ökonomisch und sozial gespalten – auch sein Gedächtnis ist geteilt. Wenn man wie der israelische Historiker Dan Diner in seinem Buch „Das Jahrhundert verstehen“ die Erinnerung beschreibt als die „Währung, mit der sich eine Gesellschaft organisiert“, dann wird die Dimension dieses Konfliktes deutlich. Wolfgang Thierse zieht daraus eine logische Konsequenz: Er fordert die „Vereinigung der Erinnerung“. Er möchte, daß sich Ost- und Westdeutsche ihr Leben erzählen.

Aber erzählen die Ostdeutschen mit ihren Dederonbeuteln der Westdeutschen Iris Kettner nicht ihr Leben? Interessiert sich die Künstlerin aus dem Westen nicht für den Osten? Ist da nicht so etwas wie Verständnis?

Die Zeiten, in denen der Generalverdacht bestand, die Ostdeutschen seien faul und demokratieuntauglich, sind tatsächlich vorbei. Die Dederonbeutel sind nicht mehr Sinnbild für den zurückgebliebenen Ostler, dem die Eleganz des Westens auf ewig verschlossen bleibt. Heute dominiert in Westdeutschland ein freundliches Interesse am Osten. Aber eine weitverbreitete Ahnungslosigkeit läßt dieses Interesse hilflos wirken. Das wiederum erweckt im Osten den Eindruck, er werde nur deswegen toleriert, weil er dem Westen im Herzen doch egal ist.

Oder weil der Westen das Verschwinden des Ostens dokumentieren will. So wie Iris Kettner, die wie eine Ethnologin agiert und die aus ihrer Sicht wertvollen Dinge der DDR in einem Museum der Alltagskultur konservieren will. Dabei begibt sie sich unbewußt auf die Suche nach etwas, das sie zu Hause in Westdeutschland verloren zu haben scheint: eine Ursprünglichkeit, die es im Westen vielleicht nur noch in der Adenauer-Zeit gab. Nach Menschen, die sich nicht den Moden unterwerfen, die noch nicht kulturindustriell genormt sind, die heute noch mit einem Dederonbeutel einkaufen gehen. Bei dieser Suche, die oft aufrichtig gemeint ist, versucht der Westen den Osten zu enträtseln. Dabei macht er aus ihm ein neues Rätsel, und was für eins: ein viel größeres, als es jemals war. Der Westen macht den Osten zu einem Produkt seiner eigenen Erfindung – und hält ihn damit weiter in seiner Abhängigkeit.

Vielleicht liegt das eigentliche Problem ja in diesem ganzen öden Gerede von der inneren Einheit. Vielleicht braucht Deutschland einfach nur die Akzeptanz der Unterschiede von Ost und West. Vielleicht reicht ja die Zustimmung zum Grundgesetz als Ausdruck der Einheit. Vielleicht sollten wir uns doch nicht gegenseitig unser Leben erzählen, sondern es für uns behalten. Vielleicht sollten Ost- und Westdeutsche nur miteinander reden, wenn sie Lust dazu und sich etwas zu erzählen haben.

Die Verhältnisse, die wir miteinander eingehen, sind davon ohnehin unberührt. Sie sind doch nicht dadurch bestimmt, ob wir aus dem Osten oder dem Westen, sondern ob wir Chef oder Angestellter sind, Hausbesitzer oder Mieter, Verleger oder Zeitungsverkäufer, Betrüger oder Betrogene. Auf welcher Seite jeweils Ostler oder Westler sitzen, ist nicht unwichtig. Aber wenn wir die Verhältnisse auf den Kopf stellen würden und der Ostdeutsche plötzlich Zeitungsverleger wäre – dann würden wir uns ja nicht allein deswegen besser verstehen, unsere Lebensgeschichten wären für den anderen nicht verständlicher. Also leben wir doch einfach unsere Verhältnisse aus, anstatt die Unterschiede, die durch sie gegeben sind, wegzuerzählen.

Ausgelebt hat die Verhältnisse auch Luise Endlich. Vor vier Jahren ist sie mit ihrem Mann, einem Chefarzt, aus Wuppertal nach Frankfurt (Oder) gezogen. Ihr Gatte bekam im Osten eine bessere Stelle – und sie einen Kulturschock. Ihre Nachbarn tragen in der Freizeit mit Vorliebe braune Trainingsanzüge der NVA und trinken süßen Rotkäppchensekt, die Kellner sind maulfaul, die Handwerker inkompetent. Und die Hummercremesuppe bereiten sie in Frankfurt (Oder) mit Mehlschwitze zu.

Überall dort, wo die Frau aus dem Ruhrgebiet auf Entgegenkommen hofft, empfängt man sie mit dem Mißtrauen, das man Fremden dort entgegenzubringen pflegt. Ihre zunehmende Verärgerung darüber treibt sie eines Tages dazu, die Geschichten genauso aufzuschreiben, wie sie sie erlebt hat. Aus Angst davor, daß ihr Mann in der Klinik Ärger wegen ihres Buches bekommt, veröffentlicht sie es unter Pseudonym. „NeuLand“ heißt das Buch, und es ist alles andere als große Literatur. Es sind, das gibt der Untertitel zu, „einfache Geschichten“.

Der Vorzug des Buches besteht darin, daß Luise Endlich offen erzählt, was sie stört. Sie will nicht die verständnisvolle Westdeutsche spielen, wo sie sich maßlos ärgert. Das ist manchmal unfair. Aber dafür hat es nichts vom großen, folgenlosen Geschwafel von innerer Einheit. Es sind alltägliche Begebenheiten, in denen sie von der Trägheit, der Verschlossenheit und den versteckten Feindseligkeiten des Ostens berichtet. Luise Endlich glaubt nicht daran, daß das Biographienerzählen etwas bringt.

Die Ostdeutschen, über die sie schreibt, auch nicht. Als das Buch erscheint, tauchen Flugblätter auf, in denen die Autorin beschimpft wird. In der Buchhandlung von Frankfurt (Oder) wird es nicht verkauft, aber damit die Leute wissen, worüber sie sich aufregen, können sie in dem Laden ein Exemplar für zwei Tage ausleihen. In der Märkischen Oderzeitung schreibt ein Schriftsteller, ihm sei beim Lesen des Buches „speiübel“ geworden, wegen der „Arroganz, mit der gelebtes Leben qualifiziert wird“.

Aber über das eigentlich Interessante der Diskussion des Buches steht in der Zeitung nichts. Luise Endlich berichtet, daß nach hitzigen Lesungen etliche Ostdeutsche zu ihr gekommen seien oder ihr geschrieben hätten. Sie haben recht, hätten die Leute zu ihr gesagt, viele Sachen würden sie an ihren „Landsleuten“ auch stören.

Das ist der eigentliche Fortschritt der deutsch-deutschen Debatte: daß sich die Ostdeutschen untereinander kritisieren. Wenn sich das fortsetzte, würde der Osten endlich auf sich selbst zurückgeworfen. Er müßte feststellen, daß er nur noch auf einen einzigen Nenner zu bringen ist: Er unterscheidet sich vom Westen. Er würde erkennen, daß es den Osten, der nur Opfer ist – von Kohl, der Treuhand, seiner Vergangenheit, des Westens, Opfer auch von Luise Endlich –, schon lange nicht mehr gibt.

Ostdeutschland ist in sich differenziert, es gibt Demokraten und Rechtsradikale, Leute, die Hummercremesuppe mit Mehlschwitze anrühren, und solche, die sie mit Wein zubereiten. Wenn der Osten sich selbst nichts mehr vormacht, dann könnte er sich von seiner Erfindung durch den Westen emanzipieren – und zu sich selbst finden.

Der Westen hätte auch etwas davon. Er könnte erkennen, daß es in Ostdeutschland nicht nur ein großes Beharrungsvermögen gibt, sondern auch eine Energie, die festgefahrenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. „Es gibt Momente, in denen sich der Osten als Avantgarde zeigt“, schreibt der Journalist Helmut Böttiger in seinem Buch „Ostzeit.Westzeit“ (1996), „als Vorbote eines neuen Alltags, der auch auf die alte Bundesrepublik überschwappen wird.“

Böttiger erkennt diese Bewegung vor allem in den Berliner Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg, den „Brutstätten des neuen deutschen Gefühls und der Härte“. Hier herrscht der Wunsch nach klaren Fronten. Gefragt ist nicht Ausgleich, sondern Provokation. Frank Castorf, Intendant der vielgepriesenen Volksbühne, steht mit seiner Sehnsucht nach einem neuen „Stahlgewitter“ ebenso dafür wie die Schwermetallrokker von Rammstein. Sie geben mit Flammenwerfern und ein bißchen Nazifolklore die harten Jungs aus dem Osten, die am Westen ästhetisch Rache nehmen.

Das, was im Westen die Achtundsechziger, das linksliberale Milieu der siebziger und achtziger Jahre, hervorgebracht haben, gilt in dieser Szene als schwammig, weich, „bürgerlich“ – als Ausdruck eines großen, faulen Kompromisses. Es wird verlacht. Helmut Böttiger erkennt darin Parallelen mit dem Aufbruch der Achtundsechziger im Westen, mit einem Aufbruch gegen die alten Väter. Aber es werde im Osten ganz andere Formen annehmen, weil das, was im Westen als Demokratie verankert ist, dem Osten eher fremd ist. Demokratische Spielregeln, gewählte Repräsentanten des Volkes, Richter, die Recht sprechen (und nicht Gerechtigkeit) – das wird in Ostdeutschland nicht als Selbstverständlichkeit empfunden. „Westen“, „Demokratie“ und „Parteien“ erscheinen dort vielen wieder als „das System“, dem man nicht trauen kann.

Und die Westdeutschen? Fühlen sich sicher. Sie feiern fünfzig Jahre Grundgesetz und merken nicht, wie wenig ihre Erfolgsgeschichte dem Osten zehn Jahre nach der Vereinigung anhaben kann. Vielleicht ahnen sie wenigstens, daß die Zeit, in der die parlamentarische Demokratie selbstverständlich war, an ihr Ende gekommen ist.

Jens König, 35, taz-Inlandsressortleiter, war von Herbst 1989 bis 1994 Chefredakteur der Tageszeitung „Junge Welt“ – und hat keine Dederonbeutel aufbewahrt, nicht mal für seine Kinder