Fast wie ein echter Latin Lover

Helden, von emotionaler Taubheit heimgesucht, auseinandergerissen und seitdem auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte: ein labyrinthischer Film aus Argentinien über die Polarität der Geschlechter  ■   Von Bettina Bremme

Ist diesem Mann noch zu helfen? Für Leopoldo sind Filme fast wichtiger als die Luft zum Atmen. Doch das Kino, wo er als Vorführer arbeitet, soll dichtgemacht werden, weil in Buenos Aires kaum noch jemand Filme schauen will. Leopoldos übriges Leben bietet wenig Stoff, aus dem die Träume sind. Nach Feierabend plaudert er am liebsten mit einer Topfpflanze, die er zärtlich Anita nennt. Seine Frau Sara behandelt er dagegen wie lebendes Inventar. Denn die will Leopoldo immer auf den Boden der Alltagsbanalitäten zurückstoßen: Er soll Geld verdienen und nicht so viel Zeit mit seinem Freund Oscar beim Basteln verplempern ... Dann verliebt Leopoldo sich hoffnungslos in eine mysteriöse Frauengestalt, die über den Bildschirm von Oscars neuester Erfindung flimmert, einem „Traumkollektor“. Die Schöne mit den Bambiaugen behauptet, sie heiße Rachel und habe in einem früheren Leben mit Leopoldo in New Jersey gelebt. Rachel beginnt ihm auf Schritt und Tritt zu erscheinen. Gleichmütig und unversehrt schreitet sie im cremefarbenen Fin de siècle-Kostüm durch den rasenden Straßenverkehr.

„Stirb nicht, ohne mir zu sagen, wohin du gehst“: Eliseo Subielas Film ist so abgehoben, so philosophisch bedeutungsschwanger, so hyperkomplex um mehrere Ecken gesponnen, wie der Titel ahnen läßt. Genüßlich verliert er sich in den Zwischenräumen der Welten der Vorstellungskraft und des empirisch Meßbaren, den Omnipotenzphantasien der Maschinentüftler und ihrer emotionalen Beschränktheit. Das Faible fürs Psychologisieren inmitten einer Atmosphäre surrealer Künstlichkeit ist schon längst zu einem Markenzeichen vieler argentinischer Schriftsteller und Regisseure geworden. Subielas Filme sind mit den Augen begehbare Labyrinthe. Voller Symbolfiguren und verschachtelter Handlungsebenen, wollen sie aus verschiedenen Blickwinkeln bespiegelt und beleuchtet werden. Für Subiela sind die Phantasiewelten Sackgassen und Ausgangspunkte zugleich. In fast allen seinen Filmen quält sich ein Mann undefinierbaren Alters als seelisch Scheintoter über die Runden und kriegt erst durch die Liebe wieder die Kurve. In „Die dunkle Seite des Herzens“ sucht ein von Todesphantasien heimgesuchter Gebrauchslyriker nach einer Frau, die fliegen kann. Und findet sie ausgerechnet in der Prostituierten Ana, die wie ein rätselhaftes Doppelgestirn aus heiliger Hure und Muse durch die Handlung schwebt.

Je entrückter und unerreichbarer die weiblichen Objekte der Begierde, desto höher der Sokkel, auf den sie gestellt werden. Doch wäre es viel zu einfach, Subielas Geschichten als platte Männerphantasien abzutun. Seine Filme sind voller ironischer Brechungen. Sie zelebrieren das, was sie gleichzeitig kritisieren: die Polarität der Geschlechter. Von emotionaler Taubheit heimgesucht, scheinen Subielas Helden nach der Rettung durch ein Wesen zu schreien, das verwandt ist und gleichzeitig vollkommen andersartig. Das erinnert an den antiken Mythos vom androgynen Urwesen, welches von den Göttern auseinandergerissen wurde und seitdem rastlos auf der Suche nach seiner anderen Hälfte ist. Rachel eröffnet Leopoldo: „Wir lieben uns schon seit Jahrhunderten. In einem dieser Leben warst du eine Frau und ich ein Mann.“ Der letzte Satz läßt Leopoldo irritiert zusammenzucken. Er und weiblich – wo sollte er denn dann mit all den Projektionen hin? In diesen Augenblicken, wo nicht nur die Relativität von Zeit und Raum, sondern auch die der Geschlechtsrollen angedeutet wird, beginnen tatsächlich heftige Funken überzuspringen.

Immer wenn's zu pathetisch zu werden droht, tritt ein zweites eigenartiges Paar in Aktion: Rachel und der Roboter Carlitos. Das Metallmännchen, ein Geschöpf Oscars, hat die Stimme des verblichenen Tango-Idols Carlos Gardel. Beim Näherkommen sondert er ölige Komplimente ab. Fast wie ein echter Latin Lover. Für Rachel ist Carlitos das tragikomische Pendant zu ihrer eigenen Existenz: „Wir sind füreinander geschaffen. Mir fehlt ein Körper und dir eine Seele.“ Als Rachel sich dazu durchringt, ihr Schattendasein aufzugeben, führt dies zu einem der herzzerreißend traurigsten Happy-Ends, das es seit langem auf der Kinoleinwand gegeben hat. Es ist aufregend, mitzuerleben, wie die ätherische Erscheinung Rachel sich vom Dasein als Projektionsfläche löst und als Charakter an Konturen und Vielschichtigkeit gewinnt.

Zum Schluß bleibt dem verzweifelten Leopoldo gar nichts anderes übrig, als Rachels Perfektion in Frage zu stellen: „Warum hast du eigentlich Angst, wiedergeboren zu werden?“ „No te muertas sin decirme a dónde vas“. Buch und Regie: Eliseo Subiela. Argentinien, 1995, 120 Minuten In den Kinos fsk, Hackesche Höfe und Klick