In Indien mehren sich die Angriffe auf Christen

■ Radikale Hindus setzen sich gewaltsam gegen angebliche Bekehrungsversuche zur Wehr

Dehli (taz) – In der hinduistischen Tradition ist jede Religion nur die kulturelle Spielart einer gemeinsamen Spiritualität. Daher ist auch Weihnachten ein Festtag, genauso wie die Feste anderer Religionen. Das letzte Weihnachtsfest allerdings zeigte ein anderes Gesicht des Hinduismus. Im westindischen Unionsstaat Gujerat nahmen Mitglieder der radikalen Hindu-Organisationen Bajrang Dal und des Welt-Hindu-Rats VHP das christliche Fest zum Anlaß, um Kirchen, Schul- und Vereinshäuser anzuzünden und Priester und Nonnen anzugreifen. Sie suchten dafür einen der ärmsten Bezirke in diesem wohlhabenden Agrarstaat aus, in dem sich zahlreiche Ureinwohner zum Christentum bekennen. Die Angriffe waren der Höhepunkt einer Kampagne, die allein in Gujerat in den letzten sechs Monaten vierzig Zwischenfälle provoziert hatte, angefangen von Bibelverbrennungen über die Brandschatzung von Kirchen bis zu Angriffen auf Priester und Vergewaltigungen von Nonnen.

Die hinduistische BJP-Regierung in Delhi hatte vor einem Monat anläßlich eines Protesttags aller indischen Christen versprochen, daß sich die Angriffe nicht wiederholen würden. Sie sandte ein Beobachterteam nach Gujerat, und Premierminister A. B. Vajpayee erinnerte in seiner Neujahrsansprache daran, daß die religiösen Minderheiten in der Verfassung einen speziellen Schutz genießen. Doch andere Politiker der religiös- nationalistischen Regierungspartei spielten die Zwischenfälle herunter, und auf dem Nationalkongreß der BJP am letzten Wochenende wurde die BJP-Regierung von Gujerat ausdrücklich für ihr Krisenmanagement gelobt. Dies stand im Gegensatz zu vielen Presseberichten und Aussagen von Christen, die der Verwaltung und der Polizei der betroffenen Distrikte vorwarf, die Demonstrationen zugelassen und bei den Angriffen weggeschaut zu haben.

Auch die Führer von VHP und Bajrang Dal wiesen die an sie gerichteten Vorwürfe zurück und sprachen von unabhängigen lokalen Organisationen. Gleichzeitig rechtfertigten sie die Übergriffe als Ausdruck des „Zorns der Hindus“ gegen die „Zwangsbekehrungen“ durch christliche Missionare. VHP-Generalsekretär Ashok Singhal etwa sieht in den Christen die Speerspitze einer Attacke des Westens gegen die indische (sprich hinduistische) Nation. In Singhals zwanghafter Verschwörungsoptik wird selbst die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaft an Amartya Sen zu einem Teil dieses Komplotts; er sieht im Plädoyer des indischen Ökonomen gegen den Analphabetismus eine westliche Taktik, um indische Kinder in die Schulen und damit den Christen in die Arme zu treiben.

Zahlreiche Schulen (und Spitäler) werden von christlichen Institutionen betreut, und diese Sozialinstitutionen spielen heute eine größere Rolle als die Bekehrungstätigkeit. Das sozialethische Bekenntnis des Christentums zur Gleichheit der Menschen und zur Hilfe für die Armen übt in dieser stark hierarchisierten Kastengesellschaft gerade für die ärmsten Bevölkerungsgruppen noch immer eine starke Anziehungskraft aus.

Die VHP hat inzwischen ein ambitioniertes Programm für rund 200 „kritische“ Distrikte entwickelt, in denen christliche Konversionen durch „Rückbekehrungen“ aufgefangen werden sollen. Den christlichen Schulen sollen Hindu- Schulen entgegengestellt werden, obwohl die christlich geführten Schulen keinen religiösen Unterricht durchführen. Aber dies zählt für die religiösen Fanatiker nicht, ebensowenig die Tatsache, daß die Christen gegenüber den 85 Prozent Hindus nur 2,4 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Bernhard Imhasly