„Flimm ist der Feind“

Auch eine Hamburger Schule: Jung und erfolgreich sind die Theatermacher Matthias von Hartz, Falk Richter, Bernd Stegemann, Nicolas Stemann und Sandra Strunz. Sie finden, daß Jungsein ohne Rebellion geht, Berlin am Ende und Theater schneller als das Leben ist  ■ Von Christiane Kühl

Manchmal, sehr selten, werden aus kleinen Kötern stolze Schwäne. Das ist eine erstaunliche Entwicklung, und entsprechend nimmt sie kaum jemand zur Kenntnis. Eine Reihe der Absolventen des Hamburger Studiengangs Schauspieltheater-Regie hat in den letzten Jahren bei dem internationalen Nachwuchsfestival „Junge Hunde im Mai“ auf Kampnagel erstklassige Inszenierungen gezeigt, die in der Folge durch Deutschland, die Schweiz, nach Holland und England tourten. Trotzdem sind ihre Namen noch immer so gut wie unbekannt.

Und als die Wiener Festwochen in diesem Jahr erstmals einen Regiewettbewerb ausrichteten und unter den sechs geladenen Talenten drei, darunter die spätere Gewinnerin Ute Rauwald, vom sogenannten Flimm-Studiengang kamen, mußten die Kollegen von der Berliner Ernst-Busch-Schule erst mal darüber aufklärt werden, daß das von dem Regisseur Jürgen Flimm und dem Theaterwissenschaftler Manfred Brauneck gegründete Institut für Theater, Musiktheater und Film überhaupt existiert. Seit zehn Jahren.

Während die ehemaligen Ernst- Busch-Schüler, namentlich Thomas Ostermeier und Jens Hillje, sich auf frontal-clashige Inszenierungen der jungen Briten konzentrieren, ist der Hamburger Ansatz pluralistischer. Zwar hat Falk Richter (1969) Martin Crimps „Angriffe auf Anne“ ins Deutsche übersetzt und die europäische Erstaufführung in Amsterdam gezeigt und Matthias von Hartz (1970), die deutsche Erstaufführung von Irvin Welshs „Headstate“ inszeniert, doch arbeiten die Hamburger meist ohne Dramentexte. Und wenn, dann nehmen sie sie auseinander.

Ute Rauwald (1964) zerlegte Lorcas „Bernada Albas Haus“ sensibel in „Sechs häßliche Töchter“, Nicolas Stemann (1968) zeigte mit „Werther!“ den Leidenstrip als theatralisches Roadmovie für Mann, Mikro und Videobeamer und untersuchte in seiner „TerrorTrilogie“ Tschechow, Sophokles und Büchner auf die Frage „Wie geht Jungsein ohne Rebellion?“. Geschlossene psychologische Oberflächen interessieren die jungen Theatermacher nicht, das Spiel als Spiel wird auf der Bühne thematisiert. Die eigene Biographie nimmt unverhohlen Einfluß, explizit etwa bei von Hartz' „Autoreverse“, einer Abrechnung mit den 80er Jahren. Auch Sandra Strunz (1968), die mit „Meine erste Frau hieß Zwieback. Das Leben des Armand Schulthess“, „Glauser“ und „Lucas, Ich und Mich“ nach Agota Kristof stets fremde Biographien in den Mittelpunkt stellt, nähert sich ihnen extrem subjektiv.

Ein wenig eitel sind die jungen Schwäne bereits. Handys und Terminkalender sind immer zugegen – wenn ein Treffen denn überhaupt zustande kommt. Ute Rauwald hat bis März 1999 keinen Termin anzubieten. Dafür nahm der Dramaturg Bernd Stegemann, ebenfalls Ex-Schüler des Regiestudiengangs, am taz-Gespräch teil. Stegemann arbeitet mit Rauwald, Strunz und Stemann und ist ab kommendem Jahr Dramaturg am TAT im Frankfurt.

taz: Drei Bewegungen waren im deutschsprachigen Theaterraum in diesem Jahr nicht zu übersehen: das Auftauchen eines Schwarms junger Dramatiker, die Verjüngung der Intendanzen etwa durch Thomas Ostermeier und Stefan Bachmann und das Raumgreifen der Gießener Schule vor allem durch Stefan Pucher und Gob Squad. Wird die Hamburger Schule bald ebenso präsent sein?

Falk Richter: Wir versuchen ja in erster Linie, uns von der Hamburger Schule zu lösen. Sie hat sich eine Zeitlang dadurch ausgezeichnet, daß hier Assistenten von der 68er-Regiegeneration ausgebildet wurden. Die sind mittlerweile alle von der Bildfläche verschwunden. Wir haben erst gar nicht auf die Väter gesetzt, haben von Anfang an unsere eigenen Arbeiten gemacht. Ein Team sind wir insofern, als daß wir alle auf ganz eigene Weise an etwas anderem arbeiten. Dadurch eröffnet sich ein Spektrum, und das ist interessant.

Interessant ist auch, daß Sie alle sowohl freie Produktionen als auch Auftragsarbeiten an Stadt- und Staatstheatern machen.

Nicolas Stemann: Die Arbeit auf Kampnagel schon während des Studiums war sehr wichtig für uns. Man hat dort einen Rahmen, der Professionalität und künstlerische Eindeutigkeit fordert.

Matthias von Hartz: Auf Kampnagel darf man Möglichkeiten nicht verschenken. Das hat unsere Ästhetik geprägt.

Bedeutet die Arbeit an Stadttheatern die Umprägung Ihrer Ästhetik?

Stemann: Ich habe meine Theatersprache sehr stark zusammen mit bestimmten Schauspielern, Dramaturgen, Bühnenbildnern erarbeitet, die locker zu einer Gruppe gehören. Was auf Kampnagel original ist, gilt es an einem Stadttheater in einen anderen Rahmen zu transponieren – den einer Behörde. Auch das Publikum ist ein völlig anderes. Dahin kann das Original nur als Abklatsch verpflanzt werden.

Richter: Momentan ist es an Stadttheatern Trend, sich junge Regisseure zu holen. Aber sie verstehen nicht, daß unsere Energien, die sie an ihren Häusern haben wollen, etwas mit der Freiheit der Arbeitsweise zu tun haben. Wenn wir an diese Häuser gehen, probieren wir, unsere Strukturen dort nachzubauen, indem wir möglichst viele Leute mitnehmen. Aber die Ängste dort sind groß. Niemand kann das verstehen, wenn ich sage: Mein Stück werde ich während der Arbeit zu Ende schreiben.

An den Staatstheatern setzt sich doch mittlerweile auch eine neue Generation durch.

Sandra Strunz: Das, was beispielsweise in Berlin passiert, ist ganz anderes Theater als das, was wir machen. Thomas Ostermeier macht neue Stücke, aber die Bearbeitung kommt doch aus einer sehr tradierten Schule heraus. Ich habe nicht ein Gefühl von „Wow, jetzt wird das Theater punkig“.

Richter: Es ist schon gut, daß es möglich ist, daß jemand mit 30 die Schaubühne übernimmt. Das hat auch mit Berlin zu tun: Da sind ja im Grunde alle Theater am Ende. Das Deutsche Theater ist so heruntergekommen, daß selbst wenn es immer noch ziemlich konservativ ist, was die in der Baracke machen, es natürlich ganz anders gegen Langhoff-Inszenierungen knallt als in Hamburg Kampnagel gegen das Schauspielhaus. Außerdem ist das ein hübscher Hauptstadt-Mythos: In Berlin kann ein junger Mann Karriere machen.

Wo wollen Sie Karriere machen?

Strunz: Ich brauche vor allem einen Ort, an dem Kontinuität herrschen kann. Ich habe keine Lust, mal hier, mal da zu inszenieren. Es ist wichtig, im Team zu arbeiten, Einzelkampf zerstört, sowohl persönlich als auch was die Arbeit betrifft. Ich will nicht immer wieder von vorne anfangen, mit neuen Schauspielern erst mal eine Sprache etablieren.

Weshalb will trotzdem keiner von Ihnen als freie Gruppe firmieren?

Richter: Die alte freie Szene konnte sich im Kampf gegen das Staatstheater definieren. Das tun sie bis heute, und das ist lächerlich.

Stemann: Außerdem macht sich heute jeder, der in Deutschland länger als vier Jahre mit einer freien Gruppe arbeitet, verdächtig.

Bernd Stegemann: Verdächtig, daß es noch keinen Kulturdezernenten gab, der ihn an ein Stadttheater geholt hat.

von Hartz: Es wäre natürlich gut, wenn es hier wie in Holland auch für Freie genügend Geld gäbe, daß es Sinn machte, weiterzuarbeiten. So hält das keiner länger als fünf Jahre aus.

Wollen Sie das System ändern?

Stemann: Wir machen jedenfalls nicht mehr alles mit. Ich für meinen Teil würde eher sagen, dann mach' ich nur noch alle zwei Jahre Inszenierungen, bevor ich irgendwelchen Scheiß mache.

Was haben die Staatstheater verpaßt in den letzten Jahren?

Richter: Das Schauspielhaus etwa hat nur Produkte eingekauft und es so absolut verpaßt, sich um Hamburger Talente zu kümmern.

Und Produktionsorte wie Kampnagel?

Stegemann: Kampnagel hat aufgrund seiner Etat-Enge nicht wirklich die Möglichkeit, etwas zu verpassen. Dort wurde das einzig Richtige getan: Das „Junge Hunde“-Festival aufgewertet. Man hat Leute geholt, die kein Geld kosten, und hat damit ein Kreativitätspotential freigesetzt, das, wenn man es bezahlen würde, zwei Millionen Mark kosten würde.

Hat Ihre freigesetzte Kreativität eine verbindende Ästhetik?

Strunz: Unsere Arbeiten haben alle wenig mit Werktreue oder Realitätsabbildung zu tun, sondern mehr mit Ergründen. Man muß auch mit dem Thema Spielen auf der Bühne umgehen.

Stemann: Das richtet sich nicht gegen Psychologie, aber Psychologisches soll nicht mit Klischees reproduziert werden. Was ich anstrebe, ist, daß man auf der Bühne das Stück und mich sehen kann, als zwei autonome Elemente, die in einer Spannung stehen.

Weshalb arbeiten Sie selten mit Dramentexten?

von Hartz: Meine letzten „Nicht“-Stücke habe ich gemacht, weil ich kein Stück gefunden habe, das zu inszenieren mir mit soviel eigenem Material sinnvoll erschien. Das hat mit der Frage nach Authentizität zu tun. Ob das Spiel mit eigenem Material Wahrheit ist oder man damit spielen kann, daß es wie Wahrheit aussieht. Das hat nichts mit Verkörpern von Figuren zu tun, nichts mit Repräsentation.

Interessiert Sie der poptheoretische Ansatz der Gießener Schule?

Stegemann: Es ist eine Mißachtung der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, zu glauben, aus dem Geiste der Popkultur könnte man das Theater neu erfinden. Der Glaube, durch die Betonung der eigenen Befindlichkeit eine Unmittelbarkeit herstellen zu können, hat viel mit Eitelkeit zu tun.

von Hartz: Aber auch mit heute. Es geht auch in meiner letzten Arbeit nicht darum zu sagen, wir schmeißen alles über den Haufen. Es ist mehr, daß unsere Ausgangspunkte ganz andere sind: Musik und Club, nicht Literatur.

Strunz: Das ist der Trend – junge Regisseure müssen hip sein. Es ist doch sowieso alles so hip, da will ich im Theater was anderes erleben. Ich habe Fun bei den Proben – vermitteln will ich Sensibilität.

Stegemann: Es ist jedenfalls richtig, daß sich das Theater nicht über die CD-Industrie retten kann.

Soll Theater politisch sein?

Richter: Was heißt politisch? Macht man dann so eine Bahnhofsmission wie Schlingensief? Das ist doch ein Zitat von politischem Theater und einfach Kult.

Stemann: Ich habe ein konkretes Interesse, politische Themen aufzugreifen. Sei es Auschwitz mit „Zombie 45“ oder politische Protestkultur mit „Terrorspiel“. Die Gefahr dabei ist, daß man damit gleich doof wird, aber da liegt ja die Chance von Theater, daß man Widersprüche aufbauen kann, ohne sie gleich auflösen zu müssen.

Richter: Ich habe die euröpäische Erstaufführung von „Angriffe auf Anne“ inszeniert. Dieses Thema, wie Wirklichkeit in der Medienwelt hergestellt wird, ist hochpolitisch. Und natürlich interessiert mich der Rechtsruck in der SPD, aber da weiß ich noch nicht, wie ich damit auf dem Theater umgehen werde.

Stemann: Es ist interessant, den Vergleich herzustellen zwischen dem Generationswechsel auf der politischen Ebene, wo die 68er Generation gerade ihren Dienst antritt, und dem Wechsel auf dem Theater, wo die 68er gerade abgelöst werden von unserer Generation. Da ist das Theater ja mal schneller als das Leben!

Richter: Oder eine Generation unwichtiger. Die Frage ist doch, welche Leute in welche Positionen kommen. Das sind immer die, die dem System nicht gefährlich werden. Für die, die sich nicht geschmeidig einpassen, ändert auch der Generationswechsel nichts.

Stegemann: Der Unterschied zwischen den Ernst-Busch-Schülern und uns ist der, daß wir die Theatermittel auf der Bühne thematisieren. Ihre Figuren sind nie damit konfrontiert, daß Zuschauer anwesend sind, außer bei Ostermeier, der in der kleinen Baracke keine vierte Wand behaupten kann. Das ist auch das Neue, was er macht, neu bei der Herstellung geschlossener psychologischer Oberflächen.

Strunz: Aber es gibt auch einen großen Unterschied in der Dramaturgie. Meine Geschichten haben keine gerade Chronologie, haben mehr mit Assoziationen, Freiräumen und Fragment zu tun.

Richter: Das hat auch damit zu tun, daß wir in Hamburg uns immer von Flimm abgegrenzt haben, während die in Berlin sich von Castorf abgrenzen mußten.

Stegemann: Flimm ist der Feind, das ist klar.

Richter: Dadurch haben sich absurderweise in Hamburg und Berlin zwei Systeme gebildet.

Stegemann: Die müssen fusioniert werden, dabei bin ich gerade. Auch in einem Haus wie dem Frankfurter TAT dürfen die Leute nicht nur von den sogenannten Werktreuen kommen, sondern auch von der Hamburger Schule. Weil nur zusammen, nebeneinander kann das spannend werden.