Das doppelte DDR-Gesicht

Klaus Schröder gelingt eine überzeugende Studie über Ursprünge, Verlauf und Krise der SED-Herrschaft, aber sein Porträt der DDR-Gesellschaft und der Lebenswirklichkeit im „ersten sozialistischen deutschen Staat“ bleibt eher blaß  ■ Von Wolfgang Templin

Knapp ein Jahrzehnt nach dem Herbst 1989, der friedlichen Revolution und dem Zusammenbruch des DDR-Systems, ist die Geschichte des „sozialistischen Gesellschaftsexperiments“ auf deutschem Boden immer noch heiß umstritten. In den beiden letzten Jahrzehnten der DDR-Existenz unter Erich Honecker griff im Westen eine Normalisierungssicht um sich, die dem zweiten deutschen Teilstaat Chancen einer nachholenden Modernisierung gab, die häßlichen Seiten der Diktatur ausblendete oder kleinredete und auf den Erfolg des Rezeptes „Wandel durch Annäherung“ setzte. So sehr sich diese Sicht blamierte, so offen bleibt die Frage nach der letztlichen Tauglichkeit modernisierungstheoretischer oder totalitarismusbezogener Konzepte für die Erfassung von DDR-Geschichte.

Klaus Schroeder, der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, legte vor kurzer Zeit eine Gesamtgeschichte der DDR vor, die sich den theoretischen und politischen Kontroversen auf hochvermintem zeitgeschichtlichem Terrain stellt und einen Maßstab für die weitere historische Bearbeitung setzt.

Entscheidendes Kennzeichen von Schröders Arbeit ist das Beharren auf dem Diktatur- und Herrschaftsaspekt. Er entwickelt die vierzigjährige Geschichte der DDR als die versuchte und realisierte Durchsetzung von Machtansprüchen der sowjetischen Kommunisten und der mit ihnen verbundenen und von ihnen abhängigen SED. Der im Titel des Buches verwendete Begriff vom „SED-Staat“ und die Fassung der DDR als „sowjetisierter deutscher Teilstaat“ sind in diesem Kontext keine polemischen Formeln, sondern der berechtigte Versuch, Konstanten der DDR-Geschichte in all ihren Phasen aufzuweisen.

Schröder und sein Mitarbeiter Steffen Alisch versuchen das ungeheure Material ihrer Gesamtgeschichte in einen historischen Dreisprung zu gliedern und vorzustellen.

In einem ersten, streng chronologischen Teil geht es um die politisch-historische Entwicklung der SBZ/DDR von 1945 bis 1990. Anhand der mittlerweile weitgehend erschlossenen Nachkriegsplanungen der KPD und der Politik der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland (SMAD) kann Schröder die Vorgeschichte und Gründungsphase der DDR als Entwicklung zur verordneten Diktatur bestimmen.

Alle Spekulationen über divergierende deutschlandpolitische Optionen Stalins und über eine Offenheit der Sowjetunion in der deutschen Frage können nicht an der Grundentscheidung rütteln, den ihnen zugefallenen Teil Deutschlands nach dem eigenen Vorbild zu formen. Bündnispolitik in der antifaschistisch-demokratischen Phase, der Versuch, Teile des Bürgertums und der bürgerlichen Intelligenz zu gewinnen und zu vereinnahmen, und die zeitgleiche und nachfolgende gnadenlose Verfolgung politischer Gegner und Abweichler gehören dabei direkt zusammen.

Der chronologische Teil der Arbeit bleibt schlüssig, wenn er die fünfziger Jahre als eigentliche Etablierung der SED-Herrschaft bestimmt und die Phase nach dem Bau der Mauer als Konsolidierung des sozialistischen DDR-Staates annimmt.

Gut herausgearbeitet wird die Ambivalenz der „Ära Honecker“, einer Zeit erneuter Hoffnungen und Versprechen, Hoffnungen auf Lockerung und Liberalisierung, die nie eingelöst wurden, aber ein ganzes Generationenbewußtsein in der DDR prägten. Auch in dieser Phase verlor die DDR keines ihrer grundlegenden Merkmale als Diktatur und repressiver Unterdrückungsstaat, aber sie schuf ein Loyalitäts- und Bindungspotential nach innen, das weit über den Zusammenbruch des Staates und des Systems hinausreichte.

Im letzten Teil des historischen Abrisses stehen Stagnation und Krise in den achtziger Jahren, die Vorzeichen des Niedergangs und die Formierung einer politischen Opposition im Vordergrund. Die Kapitel des chronologischen Teils werden durch eine Zusammenfassung und eine Zeittafel zusätzlich erschlossen. Abbildungsteil, Dokumentenanhang, Literaturverzeichnis und Personenverzeichnis für alle Teile ergänzen das Werk.

Die eigentlichen Probleme der Schröderschen Arbeit liegen im zweiten, systematischen Teil des Werkes „Strukturen der DDR-Gesellschaft“ und in den Interpretationsansätzen des dritten Teiles „Determinanten und Entwicklungslinien der DDR-Geschichte“.

In der Auseinandersetzung um die Bewertung der DDR in der westdeutschen DDR-Forschung vor 1989 und der nunmehr gesamtdeutschen DDR-Forschung beharrt Schröder auf der Leistungsfähigkeit eines differenzierten und modernen Totalitarismusansatzes. Aus dem heraus beschreibt er die DDR unter Honecker als (spät) totalitären Versorgungs- und Überwachungsstaat. So weit kann man ihm folgen. Eine DDR-Sicht, die mit dem Verweis auf den Nischencharakter der späten DDR, die zahlreichen privaten Freiräume und die Trennung von offiziellen und inoffiziellen Lebenswelten den Diktaturcharakter des Staates und die bis zum Schluß ungebrochen existierende Machtfunktion der SED herunterspielt, verfälscht Geschichte.

Damit setzt sich Schröder polemisch und begründet auseinander und rückt im systematischen Teil seiner Arbeit bewußt die SED, den Staatsapparat, die Sicherheits- und Repressionsorgane in den Mittelpunkt der Darstellung. Dabei geraten ihm aber die anderen Teile von DDR-Gesellschaft zu blaß und konturenlos. Sozialpolitik und Alltagsleben, Kultur und Freizeit, Familie und Arbeit, der Formierungsanspruch des Systems erstreckte sich auf die gesamte Gesellschaft, konnte sich aber nur gebrochen und unvollkommen durchsetzen. „Normale“ DDR- Biographien weisen zwischen den Polen individueller Auslieferung an das System auf der einen und totaler Verweigerung auf der anderen Seite alle möglichen Spielarten von Lebensgestaltung auf, an denen sich Zugriffschancen wie Zugriffsgrenzen des Systems zeigen.

Wenn Schröder im Vorwort seines Buches davon ausgeht, daß „in der DDR Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte – anders als zum Beispiel in der Bundesrepublik – weitgehend zusammenfallen“, beraubt er sich mit dieser Einschätzung der besten Möglichkeiten seines eigenen Ansatz.

Eine politische Geschichte der DDR, die an der Härte des Staates und der totalitären Anspruchshaltung der SED festhält, könnte im engen Zusammenhang und partiellen Auseinanderfallen von Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte die Dimension von Alltag, Familie und individueller Entwicklung so aufnehmen, daß für Verklärung und Nostalgie kein Platz bleibt, sehr wohl aber für Differenzierung und Zwischentöne.

Die Übermacht der Systemgeschichte in Schröders Darstellung kann den Blick für gewachsene Lebenswelten und Bindungskräfte der DDR verstellen. Sie konnte als Teilstaat nie eine nationale Identität entwickeln, und dennoch war das spezifische „Wir-Gefühl“, das spätestens unter Honecker weite Teile der DDR-Gesellschaft erfaßte, von erheblicher Folgewirkung. Bis kurz vor dem Ende des Systems im Herbst 1989 war diese Haltung die vorherrschende und ließ die Kräfte der Veränderung und der Opposition Außenseiter im eigenen Land bleiben. In Gestalt der PDS konnte die scheinbar untergegangene SED sich erfolgreich selbst beerben und greift auf dieses DDR-Gefühl aktuell erfolgreich zurück.

Jeder Versuch einer Gesamtgeschichte der DDR zur gegenwärtigen Zeit muß den Charakter einer Zwischenbilanz tragen. Das Buch von Schröder ist unverzichtbar für die notwendige Auseinandersetzung mit den Grundfragen der deutsch-deutschen Nachkriegsauseinandersetzung und darüber hinaus für die Grundfrage des Konfliktes von Demokratien und Diktaturen in diesem Jahrhundert.

Klaus Schröder (unter Mitarbeit von Steffen Alisch): „Der SED- Staat. Partei, Staat und Gesellschaft“. Hanser Verlag, München 1998, 782 Seiten, 78DM