■ Schlagloch
: Neues aus dem Beitrittsgebiet Von Nadja Klinger

„Das deutsche Volk, geeint in seinen Stämmen, ... die alle verschieden sind, aber am Ende sind wir alle gleich.“ Aus der Weimarer Verfassung, zitiert von Roman Herzog bei der Verleihung der Goldenen Henne der Zeitschrift „Super Illu“, September 1998

Als sich Roman Herzog im Berliner Friedrichstadtpalast gemessen von seinem Platz erhob und irgendwie sorgfältig, gerührt durch den heftigen Applaus, zur Bühne ging, als er schließlich zum Publikum sagte: „Nun beruhigt euch mal wieder“, da mußte ich an meinen Vater denken. Wie er zeitlebens in wichtige Angelegenheiten vertieft war. Wie wir Kinder in sein Zimmer einfielen und durch ein selbstgebasteltes Mikrofon verkündeten, daß er nun eine bedeutende Auszeichnung verliehen bekäme. Oder wie wir ihn am Strand hinter der ausgebreiteten Zeitung hervorriefen.

Mein Vater erhob sich gemessen, faltete das Papier und schritt vorsichtig, damit er unsere Sandburgen nicht zertrat, auf uns zu. Er lächelte irgendwie gerührt. Vielleicht fragte er sich: Was habe ich für diesen Preis getan? Vermutlich fiel die Antwort nicht gut aus. Gleichzeitig hatte er, angesichts der ihm verliehenen Ehre, gar keine Antwort mehr nötig. „So, nun spielt mal wieder“, sagte er.

An dieser Stelle nun, da er die Goldene Henne, den Preis der Zeitschrift Super Illu, in den Händen hielt, zitierte Roman Herzog die Weimarer Verfassung. War ihm nichts Aktuelleres eingefallen? Hoffte er, sich so später damit rausreden zu können, derart populistisches Zeug nie gesagt zu haben? Oder suchte er, ebenso wie einst mein Vater, nach einer Erklärung für die Trophäe, blickte zurück und zurück und zurück und kam schließlich bei 1919 an?

Dasselbe ist vor Tagen der Süddeutschen Zeitung passiert. Auch sie widmete sich einem Phänomen: Auf was für gesellschaftlichem Boden schlägt die organisierte Rechte in Ostdeutschland Wurzeln? Hier gäbe es zunehmend „Unverständnis und Verachtung für alles, was liberal ist, rational und demokratisch, für alles, was auf die Debatte als Mittel der Konfliktlösung setzt, was also im eigentlichen Sinne modern ist“, schrieb das Blatt. Mit Erklärungsversuchen kam das Blatt schnell bei 1919 an. Die Lage im Osten sei „beunruhigend, nicht erstaunlich“, zumal dort „demokratische Traditionen, bis auf vierzehn Jahre Weimarer Republik, nie erlebt wurden“.

Unter allen Preisen ist der der Super Illu der merkwürdigste. Wenn der Osten eine „oft genug unbewußte Gemengelage unterschiedlicher Überzeugungen“ ist, „denen der antidemokratische Charakter gemeinsam ist“, und wo es an grundlegenden Werten mangelt (SZ) – was für Kriterien einer ostdeutschen Jury sind es dann, die Roman Herzog mit so viel sichtbarer Rührung nach der Goldenen Henne greifen lassen? Warum sitzen zahllose Prominente im Publikum? Und wenn obendrein die gesamtdeutsche Demokratie unter dem Osten leidet, weil die bedenkliche Entwicklung dort „zu viele Westdeutsche zu wenig kümmert“ (SZ) – weshalb antwortete mir dann Regine Hildebrandt auf die Frage, ob sie wegen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihr Ministerium verunsichert sei, mit dem Satz: „Ick habe Roman Herzog uff der Beliebtheitsskala der Super Illu überholt“? Wieso sprach, nachdem ich Magdeburg mit vollen Notizblöcken verlassen hatte, der stellvertretende Regierungssprecher auf meinen Anrufbeantworter: „In der ersten Super Illu-Umfrage seit dem Tolerierungsmodell hat Höppner einen Riesensprung nach vorn gemacht.“

Da der Osten nicht so viele Lehrjahre nehmen kann wie die Bundesrepublik der Nachkriegszeit, da der Solidaritätszuschlag die Deutschen nicht vereint, schlußfolgert die Süddeutsche: „Was fehlt, ist eine Demokratisierungsinitiative für den Osten.“ Jagen wir diese These einfach mit einer anderen: „Was fehlt, ist eine Demokratisierungsinitiative für den Westen.“

Vorweg: Ich habe keine Lust, hier zu erzählen, wie mich die politische Ahnungslosigkeit mancher Ostdeutscher zuweilen anstinkt. Wie allein ich gelassen werde, wenn ich in einem Anliegen freiwillige Verbündete suche, und wie brav alle erscheinen, wenn ich einen konkreten Termin festsetze. Wie sie jeden erdenklichen Weltschmerz mitbringen und es somit schaffen, in mehrstündigen Veranstaltungen meistens zu Tränen, jedoch nie zur Sache zu kommen. Würde ich davon berichten – ich wäre auf der Höhe der Zeit. Ein moderner Ostler. Vermutlich käme ein Angebot von der Welt. Deshalb neige ich dazu, meine Landsleute zu entschuldigen.

Gerade dort, wo im Osten aktiv Politik gemacht wird, erlebe ich die meisten Momente von Frustration. Seit drei Jahren sitze ich im Bezirkselternausschuß, habe den Aufstieg in die Landesebene hinter mir, was soviel bedeutet, daß das Verständnis von den Mechanismen zu- und der Respekt vor der eigenen Nützlichkeit abnimmt. Stets stehen sich zwei Seiten gegenüber, die einander gegenseitig auf die Nerven gehen: die in Partei und Parlament eingebundenen Volksvertreter contra die politisch unprofessionellen Bürger.

Erst letzte Woche ist das Bezirksamt Prenzlauer Berg der Pflicht nachgekommen, unseren Ausschuß zum Schulentwicklungsplan anzuhören. Wir saßen die halbe Nacht, arbeiteten uns durch die Statistiken und Erklärungsmuster des Amtes und versuchten mit mühevoll ausgearbeiteten Diskussionsbeiträgen eine andere Verteilung von Geldern zu erwägen, Alternativen zu Schulschließungen zu finden... – eben Konflikte zu lösen. Die Antworten der Berufspolitiker waren freundlich und kunstvoll verpackt: in Hatten-wir-alles- schon oder Ist-völlig-unmöglich. Verbunden mit einem süffisanten Wenn-Sie-wüßten-was-sich-hinter-den-Türen-noch-alles-abspielt-Lächeln. Nach drei Jahren Arbeit kann ich behaupten, ein klares Feindbild entwickelt zu haben. Meine Gegner sind das Bezirksamt, die Stadträte, der Bürgermeister – mit denen ich mich eigentlich zusammentun müßte. „Ihr Vorschlag ist total lebensfremd“, sagte letzte Woche ein Mann vom Senat zu einer Frau aus dem Ausschuß. Er hatte recht. Ihre Einwände waren der Stadt gegenüber nicht zu erklären, in der Bezirksverordnetenversammlung kaum mehrheitsfähig, und sie paßten schon gar nicht in den Finanzplan. Wir Bürger verstanden: Der Vorschlag taugte nicht fürs Politikspiel.

So entsteht Frust. Der ist es wohl auch, der Regine Hildebrandt, Reinhard Höppner und Roman Herzog nach Super Illu schielen läßt. Weil sie wissen, daß die demokratischen Mangelerscheinungen im Osten nicht von 1919 sind. „Jetzt, nach acht Jahren, wird klar, wer langfristig in der Politik bleibt“, sagt Angela Merkel mit Blick auf andere Ostdeutsche, die sich ebenfalls in der Politik versucht haben. Was sind die bundesdeutschen Demokratiespieler wert, wenn sie kaum jemanden mitmachen lassen? „Die Aufgabe bleibt für Gerhard Schröder“, schreibt die Süddeutsche. Für den zuallerletzt.