Anita – Siegerin des Wettbewerbs

In Katie O' Connors Pub gibt es hervorragendes frisches Guinness. Kein Wunder, in der Gegend haben sich viele Iren niedergelassen. Zu später Stunde wird es dann bei Karaoke beschwingt lustig  ■ Von Jochen Spangenberg

Zigarettenrauch und Stimmengewirr schlagen uns entgegen, als wir Katie O'Connors, ein Pub in der Willesdon High Street im Nordwesten Londons, betreten. „Drei Pints bitte“, lautet unsere Bestellung. Nur wenn man etwas anderes als Guinness trinken will, muß dies der Bestellung hinzugefügt werden. Die über einen halben Liter fassenden Gläser werden dreiviertel voll geschenkt und dann für etwa drei Minuten zum „setzen“ auf den Tresen gestellt. In dieser Zeit sinkt die Hefe nach unten. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Endlich hat sich die Hefe vollständig gesetzt, und im Glas befindet sich die typisch tiefschwarze Flüssigkeit.

Das Pub ligt im Stadtteil Willesdon, im Londoner Bezirk Brent. Das ist gleichbedeutend mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Einwanderern. Der Anteil irischstämmiger Menschen in Brent ist überproportional hoch. Hier wird mehr Guinness getrunken als sonst in England. Das wiederum hat den Vorteil, daß das Guinness fast ausnahmslos frisch ist und für britische Verhältnisse sehr gut schmeckt. Im Katie O'Connors ist das nicht anders.

„Ohne Guinness wäre das Leben nur halb so schön“, sagt Patrick mit einem zufriedenen Seufzer, nachdem er den ersten großen Schluck genommen und sich den Schaum von der Oberlippe gewischt hat. Sein Arbeitskollege Nick und ich stimmen ihm zu. „Nur sollte man nicht zuviel davon zu sich nehmen“, erwidert Nick und weist mit einem Kopfnicken auf eine zwei Tische weiter sitzende Frau, die in ihrem Stuhl eingesunken ist. Ihre Unterarme ruhen auf den Holzlehnen, der Kopf mit dem gefärbten schwarzen Haar liegt auf ihrer linken Schulter, eine Handtasche befindet sich auf ihrem Schoß, und hinter ihrem Stuhl, auf dem roten Teppich, liegt ein altmodischer abgetragener Anorak. Vor ihr auf dem Tisch steht ein nahezu volles Glas mit Lager- Bier. Daneben eine Schachtel Embassy-Zigaretten mit dazugehörigem Plastikfeuerzeug. Gleichmäßig hebt und senkt sich die Brust dieser etwa fünfzigjährigen Frau beim Ein- und Ausatmen. Auch das unbarmherzige Bassgedröhne aus den nur wenige Meter entfernten Lautsprecherboxen weckt sie nicht aus ihrem Schlaf. Wie wir schon beim Eintreten in die Kneipe feststellen mußten, sind zwei Männer damit beschäftigt, einen Karaokeabend vorzubereiten.

Das Pub ist voll. Jeder Tisch ist besetzt. Es scheint, als würden viele der aus allen Altersgruppen bestehenden Besucher dem Karaokebeginn regelrecht entgegenfiebern. „Los Jochen, such dir ein Lied aus. Diese Gelegenheit hast du so schnell nicht wieder!“ Mit diesen Worten versucht Nick, mich zum Mitmachen zu animieren. Er überreicht mir ein aus zahlreichen fotokopierten Seiten bestehendes, abgegriffenes Heft, in dem alle Lieder aufgelistet sind, zu denen die Begleitmusik vorhanden ist. Mittlerweile ist der Wettbewerb in vollem Gange. Das Guinness fließt in Strömen.

Das Double von Michael Stipes von R.E.M. verläßt soeben die Bühne. Mit „Losing My Religion“ hat er das Auditorium beglückt. Ohne lange Pause geht es weiter. Es folgt „I Got You Babe“, im Original von UB40 und Chrissie Hynde, nun vorgetragen von Steve und Miriam im Duett. Grauenvoll! Nicht nur für das Ohr, auch für das Auge. Steve verpaßt ständig seinen Einsatz, was dazu führt, daß er der Musik laufend hinterhersingt. Miriam hingegen scheint Probleme mit den Augen zu haben, so daß sie direkt vor dem Bildschirm steht, auf dem die Liedtexte ablaufen. Zwar ist die Vorstellung der beiden äußerst schlecht, doch tut dies der Stimmung keinen Abbruch. Im Gegenteil. Der Applaus fällt üppig aus. Lachend liegen sich die beiden anschließend in den Armen.

Die anfängliche Zurückhaltung beim Publikum ist mittlerweile vollkommen gewichen, immer mehr Besucher wollen auf die Bühne. Der Diskjockey bittet das Publikum, eine gewisse Anita mit einem gehörigen Applaus auf der Bühne willkommen zu heißen. Jene Anita mit dem Mikrofon in der Hand ist die Dame, die die vergangenen Stunden schlafend und zusammengesackt auf einem Holzstuhl direkt vor einer der Lautsprecherboxen verbracht hatte. Jetzt sprüht sie vor Energie.

„When I'm Sixty-Four“ schallt es aus den Boxen. Vom Alter singt sie. Ablesen braucht sie nichts! Nicht ein einziges Mal schaut sie auf den Bildschirm, um den Text dieses Beatles-Klassikers nachzulesen. Anita kennt jede Zeile, jedes Wort. Sie kommuniziert regelrecht mit dem Publikum, bezieht es in ihr Lied mit ein. Hier ein Augenzwinkern, da ein Fingerzeig, es paßt einfach alles. Selbstsicher schreitet sie die Bühne auf und ab. Eine Vorstellung, die an diesem Abend ihresgleichen sucht.

„Will you still need me, will you still feed me, when I'm sixty- four“, lauten die letzten Worte des Textes. Die Menge tobt. Tief verneigt sich Anita, als sie ihr Lied von der Partnerschaft im Alter und der Liebe beendet hat. Langanhaltender Applaus ist die Resonanz des Publikums. Nicht nur für uns steht die Siegerin schon jetzt fest. Kurze Zeit später besteht Gewißheit: „Gewinnerin des heutigen Abends sowie Teilnehmerin am großen Karaokefinale im Katie O'Connor in drei Wochen ist ... Anita!“ Freudestrahlend und doch etwas schüchtern, mit auf den Boden gesenktem Blick, nimmt Anita die Glückwünsche des Veranstalters entgegen. Sie hat es geschafft, für einen Abend ist sie ganz oben.

Kurz nach der Siegerehrung wird damit begonnen, die Musikanlage abzubauen. Das Licht im Saal wird so hell wie möglich geschaltet, was an eine Bahnhofshallenatmosphäre erinnert. Dies ist das Signal, daß es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Die Siegerin des Sangeswettbewerbs schreitet an uns vorbei dem Ausgang entgegen. Ihr Gang ist nicht ohne ein leichtes Wanken, mal nach rechts, mal nach links.

„Gut gemacht, feine Leistung“, ruft Nick ihr zu. Daraufhin stoppt sie und beklagt sich mit rauchiger und leicht lallender Stimme über die Kälte. Anschließend folgt etwas nahezu Unverständliches über eine warme Bettdecke. Dann geht sie weiter.

Sie ist schon fast aus der Tür, da dreht sich die Frau namens Anita noch einmal um und kommt an unseren Tisch zurück. Ganz tief beugt sie sich herab, so daß ich direkt in ihre glasigen braunen Augen blicken kann. Mit leicht gesenkter Stimme, aber doch bestimmt und fordernd sagt sie mit einem fast schon ermahnenden Ton: „Und, Jungs, ihr werdet mich doch im Finale unterstützen, oder?“ „Das werden wir. Mit Sicherheit“, lautet unsere einstimmige Antwort. Zufrieden und mit einem Lächeln geht Anita daraufhin hinaus in die kalte Londoner Nacht.