■ Die usbekische Geschichte wird wieder einmal umgeschrieben – mit Folgen für die Kulturlandschaft
: „Sechs Denkmalsstürze in nur einhundert Jahren“

Juri Jegorow: Wie steht es seit der Unabhängigkeit um die usbekische Kultur?

Mark Weil: Ich lebe in Taschkent und kann daher nicht für das ganze Land sprechen. Taschkent ist eine streitbare Stadt, sich immer sehr bewußt, die viertgrößte eines großen Reiches zu sein. In Taschkent gab es immer viele Intellektuelle und ein gewisses Maß an Freiheit – und es gibt eine Tradition der Widerrede, und wenn auch nur in versteckter Form.

Nach sechs Jahren Unabhängigkeit glaube ich leider nicht mehr, daß noch ein klarer, intellektueller Standpunkt existiert. Die Intellektuellen sind gespalten, ein Teil hat Usbekistan ganz verlassen. Das sind vielleicht nur wenige, aber so viele sind wir hier auch wieder nicht, daß wir das schmerzlos verkraften könnten. Wenn die Behörden ihre „Wohlfühl-Statistiken“ veröffentlichen, die einen Rückgang der Auswanderungen beweisen sollen, denke ich immer, daß es nicht so sehr um die Quantität derer geht, die das Land verließen, sondern um ihre Qualität.

Ich habe das Gefühl, Taschkent ist provinzieller geworden. Es hat sich vom Großreich gelöst, lebt jetzt mehr in seinen eigenen Grenzen. Die Stadt gibt sich nicht mehr solche Mühe, und die Intellektuellen kümmern sich um ihr eigenes Leben und ihre Arbeit. Ich besuche oft Künstler in ihren Ateliers und sehe, wie man da arbeitet und durchaus Ergebnisse vorzuweisen hat.

Über die Literatur kann ich nicht viel sagen. Ich befürchte, die russischsprachige Literatur ist in Usbekistan fast ausgestorben. Die usbekischen Schriftsteller wissen offenbar selbst nicht, was los ist, und scheinen nur wenig zu veröffentlichen.

Im Theaterbereich kenne ich mich besser aus. Da sehe ich vor allem Alim Salimow, der phantastische Sachen für das usbekische Jugendtheater macht. Aber Gott behüte, daß er auch nur versteckteste Anspielungen auf Themen macht, die offiziell tabu sind. Er hat zum Beispiel seine eigene Version der Biographie von Tamburlaine (Timur) auf die Bühne gebracht, die sofort verboten wurde. Ich fand es nicht besonders kontrovers. Aber man braucht nur ein klein wenig von der derzeit offiziellen Idolisierung Amir Timurs abzuweichen, und schon landet ein Stück im Orkus. Die Intellektuellen können eigentlich nur der offiziellen Linie folgen oder stumm bleiben.

Die usbekische Geschichte wird also neu geschrieben. Manches muß die ansässigen Russen schmerzen, wie das gezielte „Vergessen“ der Namen von russischen Intellektuellen, die viel für dieses Land und seine Leute getan haben. Auch Straßen werden umbenannt...

Das haben die Bolschewiken auch schon gemacht, die Geschichte umgeschrieben. Das hat Tradition hier, ist geradezu eine Besessenheit. Jedes neue Regime versucht, die Erinnerung an seine Vorgänger auszulöschen. Ich würde zum Beispiel die Denkmäler der sowjetischen Ära nicht antasten, nur eine Plakette anbringen, wann sie errichtet wurden. Das alles ist Geschichte. Ich glaube nicht, daß es besonders klug ist, im Zentrum von Taschkent nun ein riesiges Denkmal für Amir Timur zu errichten. Das ist doch eine Farce. In den letzten 100 Jahren haben sich am selben Platz sechs verschiedene Denkmäler abgelöst. Wie viele werden es noch sein?

Und wer sind die überhaupt, die sich da so gegen die russische Kultur wehren? Einzelne Usbeken? „Das Volk“? Ach was. So sehr hat man sich nicht verändert. Sehen die Usbeken jetzt etwa weniger russischsprachiges Fernsehen oder hören russischsprachiges Radio? Wenn eine Umfrage zu dem Ergebnis käme, daß russische Sendungen niemanden mehr interessieren, wäre es in Ordnung, wenn die Politiker sagten: Schluß, wir geben keine Gelder mehr. Aber ich glaube, daß hinter dieser ganzen Kontroverse eher ein paar schlaue Geschäftemacher stecken. Wenn die russischen Sender so beliebt sind, dann sollen und werden die Leute auch dafür zahlen.

Die gleiche Logik beherrscht viele andere Gebiete. Am Nationalfeiertag, dem „Tag des Sieges“, druckte eine Zeitung ein Foto, auf dem alle Medaillen wegretuschiert waren. Was soll der Unsinn? Glauben Sie, daß die Usbeken, die im Zweiten Weltkrieg zur Verteidigung der Sowjetunion durch alle Höhen und Tiefen gegangen sind, vergessen können, daß sie sowjetische Medaillen haben?

Interview: Juri Jegorow

Mark Weil arbeitet als Theaterregisseur in Taschkent. Juri Jegorow ist Musikwissenschaftler; das Interview entstand für die „Literaturnaja Gazeta“, Nr. 9/97