Eine „ganz deutsche“ Geschichte

Vor zehn Jahren erschoß der Startbahn-West-Gegner Andreas Eichler zwei Polizeibeamte. Die Startbahngegner tun sich schwer mit diesem Trauma. Eichler war kein „ausgekekster Einzeltäter“  ■ Aus Frankfurt Klaus-Peter Klingelschmidt

„Die politische Kultur ist zerfallen.“ Achim Bender aus Rüsselsheim, einer der hartnäckigsten Kämpfer gegen die Startbahn 18 West am Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt, kommentierte zwei Tage nach der „unfaßbaren Tat“ das Ereignis. Schüsse waren abgefeuert worden im Mönchbruchwald, aus einer Gruppe von Demonstranten heraus auf eine Gruppe von Polizisten. Der 44jährige Polizeihauptkommissar Klaus Eichenhöfer wurde durch einen Unterbauchsteckschuß tödlich verletzt. Der 23jährige Polizeiobermeister Torsten Schwalm starb an einem Bauchsteckschuß. Tatzeit: 2. November 1987 gegen 21.30 Uhr.

Die politische Kultur war zerfallen – allerdings schon Jahre vor der Bluttat. Acht Jahre lang war der Todesschütze dabeigewesen, seit dem Bau des Hüttendorfes 1980. In all diesen Jahren: Prügelnde Polizisten; Polizisten, die Tränengas- und Blendschockgranaten verschießen; Polizisten in Turnschuhen mit zwei Meter langen Holzknüppeln auf Menschenhatz im deutschen Forst. Auf der anderen Seite: Tausende von gewaltfreien Demonstranten. Aber es flogen auch Brandsätze auf Einsatzfahrzeuge. Und es wurden mit Zwillen Sechskantmuttern aus Stahl verschossen – mitten hinein in die Meute der Beamten.

„Mordversuche“ seien das gewesen, sagte ein Polizeisprecher schon in der Nacht nach der Besetzung des Hüttendorfes durch die Polizei. „Mordversuche“ seien das gewesen, sagten Demonstranten nach der Knüppelorgie der Polizei in der Rohrbachstraße in Frankfurt. Dutzende von schwer verletzten, blutüberstömten Menschen lagen nach diesem „Einsatz“ auf dem Asphalt. Es hätte schon vor diesem 2. November 1987 Tote geben können.

Die gab es dann, als die Zeit der Massendemonstrationen gegen die Startbahn längst vorbei war. „Sonntagsspaziergänge“ nannten die letzten Gegner die allwöchentlichen, zum Ritual gewordenen Scharmützel mit der Polizei: Streben aus der „Schandmauer“ knacken, Feuerwerkskörper auf die Polizei werfen, Ausfälle provozieren – wegrennen. Business as usual für die Beteiligten, bis zu diesem 2.November 1987. Da war einer dem Aufruf der Bürgerinitiative zum Jubiläumsprotest an der Startbahn gefolgt – mit einer Pistole im Rucksack. Ein Tabu sei in dieser Nacht verletzt worden, sagte Joschka Fischer, damals Fraktionsvorsitzender der oppositionellen Grünen im hessischen Landtag. Nie zuvor hätten Demonstranten in der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt zu einer Feuerwaffe gegriffen. Und Daniel Cohn-Bendit, heute Europaabgeordneter der Bündnisgrünen, schrieb in seinem Stadtmagazin Pflasterstrand : „Keine Unterdrückung, keine Ungerechtigkeit, kein ökologischer Wahnsinn kann eine solche Tat legitimieren.“ Die Gourmets des radikalen Widerstands gegen den Staat, die den „Putz“ als revolutionäre Praxis verteidigten, müßten jetzt diese Praxis öffentlich zur Diskussion stellen.

Doch genau das passierte nicht. Der „einseitige Gewaltverzicht“, über den nachzudenken auch Alexander Schubart, der exponierteste Startbahngegner, aufforderte, stand nicht auf dem Programm der Autonomen und der sogenannten Antiimperialistischen. Dafür wurde an wilden Geschichten vom bezahlten Agent provocateur oder vom „durchgekeksten Einzeltäter“ gebastelt: Geschichtsklitterung.

Und an der wurde auch dann noch hart gearbeitet, als die Bundesanwaltschaft den mutmaßlichen Täter präsentierte. Andreas Eichler habe geschossen, hieß es. Aus einer Pistole der Marke Sig Saur, die von der Polizei in seinem Rucksack in der Wohnung seiner Freundin gefunden worden war. Andreas Eichler war damals 33 Jahre alt. Kein Agent provocateur und auch kein durchgekekster Einzeltäter, sondern Kopf einer seit Jahren militanten Gruppe von Startbahngegnern aus der Region.

Mit von der Partie auch beim Umsägen von Strommasten oder beim Abfackeln von Funkfeuern am Flughafen war Frank Hoffmann, damals 24 Jahre alt. Sohn einer der legendären Hüttendorf- Küchenfrauen aus der Keimzelle der Bürgerinitiative, der Startbahn-Frontstadt Mörfelden-Walldorf. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, ging der zur Militanz neigende Flügel der Bewegung dazu über, Andreas Eichler als Opfer der Fahndungshysterie der Sonderkommission Startbahn und der Bundesanwaltschaft zu bezeichnen. Im Hörsaal VI an der Universität in Frankfurt gingen die Sammelbüchsen um: „Freiheit für Andy.“ Eine Woche später in Wackersdorf skandierten vermummte Demonstranten: „Sig Saur – unsere Power.“

Für die meisten Startbahngegner aus der Region seien die Schüsse dagegen ein „Schock“ gewesen, erinnert sich Dirk Treber, einer der Sprecher der Bürgerinitiative. „Die Kugeln trafen auch die Bewegung tödlich. Danach gab es keinen organisierten Protest mehr gegen die Startbahn. Die Tat war damals für fast alle absolut unbegreiflich. Und das ist sie bis heute geblieben.“ Treber hat keine schnelle Erklärung dafür parat, wie es so weit kommen konnte. Einige hätten wohl die Niederlage von 1981 nicht verkraftet. „Die haben über Jahre hinweg einen Kleinkrieg mit der Polizei geführt, obwohl doch längst alles verloren war.“

Daß die Schüsse eine Zäsur waren, belegt auch eine Erklärung der Bürgerinitiative gegen die Flughafenerweiterung, die im Vorfeld des 10. Jahrestages der Bluttat regional verbreitet wurde. Darin wird „bedauert“, daß zwei Polizeibeamte durch die Schüsse getötet wurden. Und es wird festgestellt, „daß durch diese Gewalt dem Anliegen, gewaltfrei gegen die Flughafenerweiterung zu wirken, geschadet worden ist.“

Von einem Schützen aus den Reihen der Startbahngegner ist in dieser Erklärung der kleinen Nachfolgeorganisation der ehemaligen Massenbewegung nichts zu lesen – auch zehn Jahre danach nicht. Auch eine Form der Geschichtsklitterung.

Andreas Eichler ist vor wenigen Tagen aus der Haft entlassen worden. Um seinen Kopf zu retten, hatte er Frank Hoffmann beschuldigt, die tödlichen Schüsse abgefeuert zu haben. Das Landgericht Frankfurt, dessen Urteil von 1991 in einem Revisionsverfahren vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde, verurteilte nach einem Indizienprozeß Andreas Eichler als den Totschläger von der Startbahn zu lebenslanger Haft. Hoffmann wurde wegen anderer, von der „Gruppe Eichler“ begangener Delikte zu einer viereinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt.

Das Fazit hatte niemand eindrucksvoller gezogen als der holländische Polizist Herman van Hoogen, der 1987 an der Beerdigung seiner deutschen Kollegen Eichenhöfer und Schwalm teilnahm: „Das scheint mir eine ganz deutsche Geschichte zu sein. Ich habe den Eindruck, daß man in Deutschland immer etwas gründlicher ist. Links etwas gründlicher – und rechts etwas gründlicher... Aber man muß wegkommen von der Endsieg-Mentalität, daß man den anderen niedermachen und besiegen will.“ Der Polizist van Hoogen war bei einer Schießerei mit der RAF schwer verletzt worden. Dennoch hatte er später die Aussöhnung mit den Tätern von einst gesucht.