Getroffen an der Haltestelle

Ein 16jähriges Mädchen aus Bangladesch, entstellt durch ein Säureattentat, wird in Mainz operiert. Möglich macht dies die Tatkraft eines unkonventionellen Paares  ■ Von Annette Kanis

Farhana schläft wie sonst auch mit Koche, ihrer 17jährigen Schwester, und Asad, dem zwei Jahre jüngeren Bruder, in einem Bett. Die Eltern schlafen in der Bambushütte nebenan. Ein Geräusch weckt Koche auf. Sie dreht die Petroleumlampe hoch.

Für Farhana wird es immer ein Augenblick bleiben. Noch fast im Schlaf, sieht sie vier junge Männer vor dem Bett stehen. Sieht das Glas mit Flüssigkeit. Sieht, wie der eine Mann die Flüssigkeit auf sie schleudert. Dann brennt ihr Gesicht wie Feuer. Immer und immer wieder träumt Farhana Hok Ruma von den Schrecken dieser Nacht. In Sekunden war ihr damaliges Leben zerstört. Farhana ist Opfer eines Säureattentats.

Jetzt wohnt das 16jährige Mädchen aus Bangladesch bei Anita und Humayoun Kestel in einer Zweizimmerwohnung in Mainz. Ein knappes Jahr, solange die Operationen an der Uniklinik dauern werden. Die drei sitzen in der Couchecke des Wohnzimmers. Anita, die 25jährige Medizinstudentin. Humayoun, 33 Jahre alt, Industriearbeiter aus Bangladesch. Und Farhana, die wie abwesend unter sich blickt. Die trotz geringer Deutschkenntnisse genau weiß, worüber gesprochen wird, und Einzelheiten ergänzt.

Anita Kestel erzählt Farhanas Geschichte. Von den monatelangen Belästigungen und der öffentlichen Liebeserklärung des gleichaltrigen Mitschülers Mizan. Von den Nachstellungen. Von dem Heiratsantrag, den Farhana ablehnt. Von den Bestrebungen ihrer Eltern, die einen Ausweg nur darin sahen, die Tochter mit einem anderen Mann zu verheiraten. Und von der Nacht des 27. April 1996. In der Mizan Farhana Batteriesäure ins Gesicht schüttet.

Farhana sitzt neben Anita und legt den Kopf auf ihre Schulter. Schmiegt sich an sie. Anita hört auf zu sprechen. Farhana spielt mit ihren Fingern, beide versuchen, jene Bilder wieder zu bannen und fangen an, in ihrer „Geheimsprache“ zu reden, in Bangla, Farhanas Muttersprache. Themenwechsel, sie lachen.

Anita Kestel hat sich vor zehn Jahren in Humayoun aus Bangladesch verliebt. Anitas Vater, Studiendirektor und Abgeordneter der Grünen im bayerischen Landtag, hatte damals zwei Asylbewerber aus der nahegelegenen Unterkunft in Zwiesel zum Mittagessen eingeladen. Zur Hochzeit, drei Jahre später, kam er nicht. Er hatte Angst, daß die einzige Tochter die Schule abbricht, die Ausbildung schleifen läßt, daß die fremde Kultur sie verschluckt. Heute büffelt Vater Kestel Bangla.

Nach dem politischen Umsturz in Bangladesch flogen Anita und Humayoun Kestel 1990 zum ersten Mal gemeinsam in das südasiatische Land. Humayoun kehrte an seinen Heimatort Kishoreganj im Nordosten zurück, den er vier Jahre zuvor verlassen mußte, weil er als Mitglied einer Oppositionspartei verfolgt wurde. „Sehr schön, sehr arm“, waren Anitas erste Eindrücke: „Es war ein Schock, von der Armut angesehen zu werden, ohne die Distanz durch den Fernseher.“ Damals hatte sie gerade ihr Abitur gemacht. Der Umzug von Niederbayern nach Mainz zum Medizinstudium stand bevor.

Farhana Hok Ruma mußte nach dem Säureattentat die Schule abbrechen. Schmerzen und Scham waren zu groß. Viermal wurde sie im Krankenhaus von Dhaka operiert. Bei der ersten Operation ersetzen die Ärzte verätzte Gesichtshaut durch Haut vom Oberschenkel. Da hat Farhana bereits vier Stunden Autofahrt vom Dorf in die Hauptstadt hinter sich. Mit unbeschreiblichen Schmerzen. Ihr Gesicht ist auf die doppelte Fläche angeschwollen. Sie atmet durch den Mund. Die Nase ist weggeätzt.

Nach den Operationen bildet sich überschüssiges Gewebe. Die Narben verhärten, wulstige Erhebungen entstehen. Die Ärzte haben neue Nasenlöcher geschnitten. Gummipfropfen helfen beim Atmen. Farhana verhüllt ihr Gesicht. Mit einem Schleier und einer großen Sonnenbrille.

In den Monaten nach dem Überfall lebt das zierliche Mädchen bei Onkel und Tante in Dhaka. Einmal noch kehrt sie in ihr Dorf nach Kazla Bagar Bait zurück und besucht ihre Eltern und Geschwister. Bleiben kann sie nicht, die Angst und die Erinnerungen sind übermächtig. Mizan, der junge Mann, der ihr die Batteriesäure ins Gesicht geschüttet hatte, wohnte in der Nachbarschaft. Mit zweien der Mittäter sitzt er jetzt in Untersuchungshaft. Ihm drohen sieben Jahre Gefängnis. Für die lebenslange Strafe, die erwachsene Attentäter erwarten würde, ist er zu jung. Farhana fürchtet, daß seine Familie sich rächen wird, wenn er „wegen ihr“ ins Gefängnis kommt.

In Bangladesch wurden in den letzten Jahren rund 400 Mädchen und Frauen durch Säureattentate entstellt und schwer verletzt. Die Regierung will die Gesetze ändern – für die Täter soll die Todesstrafe eingeführt werden. Farhana wünscht sich nicht den Tod von Mizan. „Ich möchte auch Säure werfen“, sagt sie – mit sehr leiser Stimme.

In Mainz fühlt sie Farhana sicher. Der Lebensstil ihrer Gastgeber gibt ihr Halt. Anita und Humayoun reden ihre Sprache und haben dieselbe Religion wie sie. Zu essen gibt es Reis und Gemüse aus Bangladesch – zweimal im Monat wird dafür in Frankfurt eingekauft. Dort bekommt Farhana auch die bunten Zeitschriften aus ihrer Heimat mit den rührseligen Geschichten über berühmte Schauspielerinnen, Musikstars und Schönheiten. Wenn Farhana allein ist, guckt sie Videos. In der Schrankwand stehen 160 Filme in Bangla, im Bücherregal Bibel und Koran.

Vor sechs Jahren hat sich Anita Kestel die deutsche Übersetzung des Koran gekauft. „Ich habe lange mit mir gekämpft, welche Religion die richtige ist“, erzählt die konvertierte Katholikin. In der niederbayerischen Heimatgemeinde war sie Meßdienerin und Lektorin. „Humayoun hat mich nie gedrängt, zu seinem Glauben überzutreten“, sagt sie und spielt mit der Goldkette, die ihr die Schwiegermutter geschenkt hat. Sie hat die Bibel und den Koran verglichen, hat die andere Kultur erkundet, eine neue Religion entdeckt. Und sich entschieden: „Für mich bleibt es derselbe Gott.“ Seit zwei Jahren ist die selbstbewußte Frau nun Muslima. Seit einem Jahr trägt sie das Kopftuch.

Siebenmal ist Anita mittlerweile nach Bangladesch gereist. In das Land, aus dem die Schriftstellerin Taslima Nasrin wegen Gotteslästerung vertrieben wurde. In das Land der Reisplantagen und unzähligen Flüsse, der fruchtbaren Felder und beständig wiederkehrenden Überschwemmungskatastrophen. Mit ihrem Mann hat sie ein Entwicklungsprojekt gegründet: für Rikschafahrer in Kishoreganj, Humayouns Heimatdorf. Jetzt können die Fahrer ihre Rikschas nach dem Leasing- Prinzip abzahlen; und die teure Miete, die einen großen Teil ihrer Verdienste fraß, fällt weg.

Mit 19 Fahrzeugen haben die Kestels angefangen. Mittlerweile haben 250 Rikschafahrer von dem mit Spenden finanzierten Angebot Gebrauch gemacht. Das Projekt ist gewachsen, als nächstes sollen die Frauen im Ort Nähmaschinen bekommen. „Wir haben viel Frieden gefunden in dieser Arbeit“, sagt Anita Kestel.

Bei ihrem letzten Besuch vor einem Jahr haben Anita und Humayoun Farhana kennengelernt, an einer Bushaltestelle in der Zwölfmillionenstadt Dhaka. Verwundert über das vollkommen verhüllte Gesicht – die muslimischen Frauen in Bangladesch tragen höchstens einen Kopfschleier – sprach Humayouns Schwester das Mädchen an. Und Farhana erzählte ihre Geschichte. Danach stiegen sie alle in den Bus und fuhren drei Stunden über Land. Anita und Humayoun hielten sich an der Hand. Schwiegen. Und dachten: „Wir müssen etwas tun.“

Knapp 110.000 Mark liegen heute auf dem Spendenkonto für Farhana. Ein Großteil des Geldes ging nach einem Spendenaufruf in der Süddeutschen Zeitung ein. Der behandelnde Arzt, Spezialist für Plastische Chirurgie an der Mainzer Universitätsklinik, verzichtet zwar auf sein Honorar. Doch die Krankenhauskosten fressen schnell Zehntausende. Fünf Operationen sind geplant. Das Geld wird nun reichen.

Noch bis Dezember wird Farhana bei den Kestels wohnen. Wird alle paar Tage zur ärztlichen Kontrolle gehen, wird weiter Deutsch lernen. Und wird vielleicht Freundinnen finden in der Maria-Ward-Schule, dem katholischen Mädchengymnasium, wo sie in die neunte Klasse geht.

Farhana blättert in dem Fotoalbum, das sie mitgebracht hat aus Bangladesch. Bilder von ihrer Familie, von ihren Freundinnen. Ganz hinten im Album liegt ein Paßbild in Schwarzweiß. Es zeigt sie vor dem Attentat: eine hübsche junge Frau mit geschminkten Augen, auffälligen Ohrringen, ebenmäßigen Gesichtszügen.

Nach der ersten Operation in Deutschland hat Farhana ihren Schleier nicht mehr angezogen. „Jetzt kann ich wieder in den Spiegel gucken“, hat sie damals, Mitte Mai, gesagt. Die schlimmsten Narben um den Mund waren wegoperiert. Die in Bangladesch implantierte behaarte Oberschenkelhaut war durch zartere Haut ersetzt worden. Bei der zweiten Operation wurde die linke, weggeätzte Augenbraue durch 56 Haarwurzeln der Kopfhaut erneuert.

Wenn sie wieder in Bangladesch ist, will Farhana die High School fertig machen. Nur wenige aus ihrer Familie hatten dazu die Möglichkeit. „Dann würde sie gerne Jura studieren“, übersetzt Anita ins Deutsche. Farhanas nächtliche Alpträume sind geblieben. Aber sie haben sich verändert: Erst war sie stets wie gelähmt. Wehrlos, stumm. Jetzt schlägt sie zurück. Haut zu und schreit. Und es ist noch nicht lange her, da hat sie im Traum auf Mizan geschossen.