■ In Bolivien hat man das Skelett des „Fünften Beatle“ gefunden. In Kuba läuft die Gedenkkampagne auf Hochtouren. Che Guevara lebt. Aber welcher?
: Das Jahr des Che

In Kuba wird jedem Jahr ein offizieller Name gegeben. Zum Jahresanfang 1997 konkurrierten nun drei große Ereignisse um das Privileg, daß nach ihnen das Jahr benannt werden würde: der 5. Kongreß der Kommunistischen Partei Kubas, der in diesem Herbst stattfinden wird; die Weltfestspiele der Jugend, die in diesem Sommer in Havanna abgehalten werden; und der 30. Todestag des im Kampf gefallenen „Heroischen Guerillero“, Che Guevara.

Die Wahl schien nicht leicht. Doch die offiziellen Anrufe für den Parteikongreß versprechen wenig programmatisch Bedeutsames, und auch die Idee, die Jugend der Welt zum Feiern einzuladen, erscheint, angesichts der prekären Lebensbedingungen der einfachen Kubaner, allzu widersprüchlich. Daher schien der Tod des legendären Revolutionärs der Favorit bei der Namenswahl 1997 zu sein. Und so war es dann auch.

Es folgte eine großangelegte Kampagne. Granma, das Zentralorgan der kubanischen Kommunistischen Partei, begann, Auszüge aus den Tagebüchern des Che in der Tageszeitung zu drucken. Jede Woche erscheint in dieser oder einer anderen Publikation ein Interview mit jemandem, der ihn kannte oder mit ihm gekämpft hat, ein Kommentar über diese oder jene Episode seines Lebens, das spartanisch und beispielhaft war.

Vielleicht der spektakulärste Teil dieser Gedenkkampagne ist die halbklandestine Kommission, die von keinem Geringeren als dem ehemaligen kubanischen Innenminister Ramiro Valdés geleitet wird und deren zentrale Aufgabe es ist, die sterblichen Reste des Heroischen Guerillero zu finden und nach Kuba zu bringen. Wenn man den jüngsten Meldungen Glauben schenkt, war ihre Suche offenbar erfolgreich.

Eine Schwierigkeit für diese Arbeitsgruppe in Sachen ideologischer Archäologie ist allerdings das touristische Interesse, das der Tod des Che jenen abgelegenen bolivianischen Bergen beschert hat. Den „Fünften Beatle“ hat man ihn genannt, den „berühmtesten Argentinier des 20. Jahrhunderts“ (wenn Sie gestatten, Carlos Gardel, Evita Perón und Diego Armando Maradona). „Wenn sie den Che mitnehmen, wird doch niemand mehr herkommen!“ klagte ein Bauer aus La Higuera. Dort war der Guerilla-Comandante vor genau dreißig Jahren gefangengenommen und von den bolivianischen Rangers ermordet worden. Heute werden ihm wie einem Heiligen Bittgesuche dargebracht. Eine Wendung der Geschichte, die nicht ohne Ironie ist: Von Che, dem säkularen Revolutionär, erhofft man sich heute Wundertaten.

Man wird eines Tages genauer untersuchen müssen, wieviel ihrer Originalität die kubanische Revolution Ernesto Guevara verdankt – und das nicht nur, weil er als Präsident der Nationalbank die Kühnheit besaß, die neu in Umlauf gebrachten Geldscheine nicht mit seinem richtigen Namen, sondern mit seinem Spitznamen „Che“ zu unterschreiben. Auch nicht, weil er der Minister mit den meisten Stunden „freiwilliger Arbeit im direkten Produktionseinsatz“ war, als er an der Spitze der kubanischen Industrie seine Ideen in die Praxis umsetzen sollte. Und auch nicht, weil er in seinem denkwürdigen Aufsatz „Der Mensch und der Sozialismus in Kuba“ als erster über die Vorteile jenes Mangels an Institutionalisierung schrieb, an dem die kubanische Revolution damals noch litt (oder dessen sie sich damals noch erfreute).

Der Che prägte jedem einzelnen der ersten Akte der Revolution seinen Stempel auf. Denn es gelang ihm, in dem verknöcherten Marxismus-Leninismus das lateinamerikanische Kitzeln zu finden und ihn damit von der Brutalität des Stalinismus ebenso fernzuhalten wie von dem Fundamentalismus des Maoismus. Der Beitrag Fidel Castros war ein gänzlich anderer. Der Máximo Lider brachte seine unendliche Improvisationsgabe und seinen noch unendlicheren Voluntarismus ein. Dazu kam Castros Rhetorik, die höchste Höhen erklomm und dabei ohne Schlips und Anzug auskam und die das Wunder vollbrachte, ein Volk von Rumba-Tänzern in eine Gemeinschaft von Gläubigen zu verwandeln.

Indem der argentinische Quijote in Bolivien im Kampfe fiel, wurde er zu einem Paradigma für diese Missionsarbeit. In seiner Trauer- und Lobesrede am 18. Oktober 1967 erklärte Fidel Castro: „Wenn man uns fragt: Wie sollen unsere Kinder sein?, dann müssen wir sagen: Sie sollen sein wie der Che...“ Fast unmittelbar danach nahm die Organisation Junger Pioniere, die die kubanischen Kinder im Vor- und Grundschulalter erfaßt, offiziell die Parole „Pioniere für den Kommunismus – Wir werden sein wie der Che!“ an. Von da an verwandelte sich der Che in das unerreichbare Modell, in den utopischen Horizont der revolutionären Haltung, in die Form, in der die neuen Generationen geschmiedet würden.

Jeder, absolut jeder Kubaner, der heute unter 40 ist, wiederholte unzählige Male jene Parole „Sein wie der Che!“. Das umfaßt nicht nur alle Kubaner, die der Sache der Partei treu blieben, sondern auch die Legion der mehr als 30.000 Flüchtlinge, die 1994 das sozialistische Projekt auf Flößen verließen, die Unzufriedenen von heute, die Schwarzmarkthändler, die Marginalisierten, all die jungen Frauen, die in der Touristen-Prostitution arbeiten.

„Der Lehm, aus dem unser Werk geschaffen wird, ist die Jugend“, hatte Che in den 60er Jahren gesagt, als er die Herausbildung des „Neuen Menschen“ propagierte. Jener Ton, der in der Form seines Beispiels gegossen und dreißig Jahre lang im Schmelztiegel der Revolution gehärtet wurde, ähnelt heute nicht einmal mehr einer Karikatur dessen, was Che für die Zukunft – das heißt für unsere Gegenwart – prophezeit hatte.

Das Jahr 1997 trägt in Kuba den etwas lang geratenen Namen „Jahr des 30. Jahrestags des Fallens im Kampfe des Heroischen Guerillero und Genossen“. Aber heute erscheinen die Projekte des Che wie die Utopien des Evangeliums, dem die Schüler ausgegangen sind. Und viele von uns, die wir ihn damals bewunderten, hadern mit einem Dilemma, das in beiden Alternativen gleichermaßen bitter ist: daß wir entweder eingestehen müssen, daß wir es nicht geschafft haben, so zu sein wie er – oder daß wir vermuten können, daß er, wäre er in Kuba geblieben, heute so sein würde wie wir. Reynaldo Escobar

Übersetzung: Bert Hoffmann