Es geht ans Eingemachte

Alte Leute in der bulgarischen Kleinstadt Dragoman leben von 13 Mark Rente, Konserven und der Hoffnung auf die Abwahl der Exkommunisten  ■ Aus Dragoman Barbara Oertel

„Ich bin hier Wächter, aber was ich genau bewache, weiß ich nicht“, sagt Simeon Simow. Der kleine Mann steckt in Gummigaloschen und einem Arbeitsanzug, der nur noch von unzähligen Flicken und Dreck zusammengehalten wird. Unter der Pudelmütze blinzeln lebhafte Augen hervor. Simows Arbeitsplatz ist ein Kuhstall der ehemaligen Kolchose „Alexander Stambuliski“ in Dragoman. Einst war die bulgarische Kleinstadt an der Grenze zu Serbien mit ihren 4.000 Einwohnern das Zentrum eines gigantischen Agro-Industrie-Komplexes mit 35 Dörfern. Nach der Wende, Anfang der 90er Jahre, wurden Komplex und Kolchosen aufgelöst, Vieh und technische Ausrüstung an die ehemaligen Mitglieder verkauft. Grund und Boden blieben weiter in Staatsbesitz. Daran hat sich bis heute, trotz eines Gesetzes über die Rückgabe von Grund und Boden, nichts geändert. Jetzt liegen die Felder brach, die Ställe modern vor sich hin und dienen als Lagerstätten. Für Waren von Dragomanern, die mit „Business“ ihr Geld verdienen.

Dreimal die Woche, jeweils 24 Stunden lang, schiebt Simow hier Dienst. Dafür erhält der 63jährige Rentner 4.500 Lewa (umgerechnet 9 Mark). Zusammen mit seiner Rente von knapp 8.000 Lewa kommt er so auf 12.500 Lewa (13 Mark) im Monat. Die unabhängige bulgarische Tageszeitung Trud errechnete jüngst das Minimum, das man braucht, um über die Runden zu kommen: 36.800 Lewa (rund 75 Mark) im Monat. Für die Rentner in Bulgarien astronomische Summen. „Wir können schuften, soviel wir wollen. Die Inflation macht uns kaputt“, sagt Simow.

1963 wurde er wegen staatsfeindlicher Tätigkeit und Propaganda zu 12 Jahren Haft verurteilt. Mit Kollegen hatte er Flugblätter gegen eine Preissteigerung verfaßt. Ein Jahr später kam er, im Rahmen einer allgemeinen Amnestie, frei. 1990 gehörte Simow in Dragoman zu den Mitbegründern der Union der Demokratischen Kräfte (SDS), des heute wichtigsten Oppositionsbündnisses in Bulgarien. „Damals haben wir noch geglaubt, daß die Kommunisten sofort verschwinden. Doch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt“, sagt Simow enttäuscht. Das Angebot, ihn im Wagen in den Ort mitzunehmen, nimmt er gerne an.

Am Ortseingang hat sich eine Tankstelle mit Leuchtreklame und modernen Zapfsäulen breitgemacht. Die Konkurrenz mit Mini- Shop und Wechselstube lauert gleich gegenüber und ist in privater Hand. „Sie gehört jemandem aus dem Nachbardorf. War früher beim bulgarischen Geheimdienst“, sagt Simow. „Der muß gute Beziehungen zur Stadtverwaltung haben“, fügt er hinzu und grinst. „Die Gewinne müssen riesig sein.“

Das Fahrzeug biegt in eine Seitenstraße ein. Eng schmiegen sich die Häuser aneinander. Ihre Außenwände haben seit Jahren keine Farbe gesehen. In einigen der kleinen Gärten laufen Hühner herum und suchen in dem gefrorenen Boden nach ein paar Körnern. In der Ferne tauchen große Fabrikhallen auf. „Das ist ,Balkan‘, die produzieren Arbeitskleidung“, erläutert Simow. „Da waren mal 500 Leute beschäftigt.“

Heute sind es noch 20 und die Perspektiven alles andere als rosig. Auch den beiden anderen einstigen Großbetrieben geht es nicht viel besser. Das Elektronikwerk wurde 1993 stillgelegt und machte einer Produktionsstätte für Spülmittel mit 80 Angestellten Platz. Elektron, Hersteller von Stromzählern, lieferte früher vor allem in die Sowjetunion. Seit dem Zusammenbruch bleiben die Aufträge aus. Entlassen wurde von den 200 Mitarbeitern bislang zwar niemand, dafür schuften aber alle zum staatlich festgelegten Minimallohn von 5.500 Lewa. Der einstige Direktor von Elektron, vor einigen Jahren auf Druck der Belegschaft abgesetzt, arbeitet heute bei Balkan. In der Chefetage.

Den zentralen Platz in der Ortsmitte säumen ein paar blaßblaue Buden, in denen Zeitungen, Getränke und Kosmetika angeboten werden. Vor einigen Jahren legten die Verantwortlichen an die Umgestaltung des Stadtkerns Hand und an dort befindliche Häuser die Abrißbirne an. Die Betroffenen wurden kurzerhand in Wohnblocks in Zentrumsnähe umquartiert.

„Zentrales Kulturhaus“ steht in großen Lettern an einem grauen, mehrstöckigen Betonklotz. Hier hat die SDS einen Raum. Die Oppositionsarbeit findet auf vier mal vier Metern und im Stehen statt. Für Stühle, geschweige denn Tische, fehlt das Geld. Einzig ein Bild des neuen bulgarischen Staatspräsidenten Petar Stojanow schmückt die nackten Wände. Bis vor kurzem gab es hier zumindest ein Telefon. Das aber wurde abgeklemmt, weil die SDS-Mitglieder die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten.

„Die Bedingungen sind schlecht, aber die SDS ist im Kommen, auch hier in Dragoman“, sagt Simow. Den letzten Abstimmungsergebnissen nach zu urteilen, könnte er mit seiner Einschätzung richtig liegen. Bei den Kommunalwahlen von 1995 konnte die Sozialistische Partei Bulgariens (BSP) mit 64 Prozent der Stimmen in Dragoman noch eine satte Mehrheit einheimsen. Im vergangenen November erhielt der Kandidat der BSP, Iwan Marasow, bei den Präsidentenwahlen mit 1.801 Stimmen nur noch eine Stimme mehr als Petar Stojanow von der SDS.

Vor einigen Tagen sind aus Dragoman die ersten vollbesetzten Busse zu den Demonstrationen nach Sofia gefahren. Und auch in der kleinen Stadt gingen einige hundert Menschen auf die Straße. „Und da waren auch Leute dabei, die vorher die Kommunisten unterstützt haben“, sagt Simow. Plötzlich beginnt er zu strahlen. „Die SDS wird die nächsten Parlamentswahlen gewinnen. Und dann müssen wir mit einem Volksentscheid die Verfassung ändern. Bulgarien braucht wieder eine parlamentarische Monarchie mit Zar Simeon II. an der Spitze. Er ist der einzige, der wirklich für Bulgarien denkt und handelt.“

Entschlossen nähert sich eine Frau, die Simows Loblied auf den Zaren mitgehört hat, der seit fünfzig Jahren im Exil lebt. Ungefähr 40 Jahre alt, stellt sie sich als Margaritta und Mitglied der örtlichen SDS-Organisation vor. Sie schüttelt energisch den Kopf. „Bulgarien steckt in einer so tiefen Krise. Da wäre es doch unsinnig, sich jetzt um Verfassungsfragen zu kümmern. Erst mal müssen Reformen und Investitionen aus dem Ausland her. Erst danach kann man über ein Referendum nachdenken.“

Ein schmaler Weg hinter dem Kulturhaus führt direkt auf eine große Ausfallstraße zu. An einem Hauseingang hängt ein Holzschild mit schwarzer Schrift: Lebensmittel, Tabak, Alkohol. In der hinteren Ecke des kleinen Verkaufsraumes steht ein Holzregal mit Flaschen: Wein, Schnaps, Limonade und Saft. Den Platz auf einem an der Wand befestigten Brett teilen sich Reinigungsmittel, Toilettenpapier, Schwämme, Tütensuppen und Schokolade. In der Vitrine liegen zwei einsame geräucherte Hühner: 840 Lewa das Kilo, teilt ein Pappschild mit. Würste kosten 740, Schnittkäse 1.462 Lewa das Kilo. „Die meisten Leute kaufen hier nur Brot. Etwas anderes können sie sich nicht leisten“, sagt die Verkäuferin. Für 8.000 Lewa Monatslohn steht sie hier täglich sechs Stunden hinter der Kasse. Mehr könne die Besitzerin nicht zahlen. „Doch ich habe keine Wahl. Der Lohn meines Mannes reicht hinten und vorne nicht.“ An der nächsten Demonstration in Dragoman will sie auch teilnehmen. „Eigentlich habe ich mich nie für Politik interessiert. Aber so kann es nicht weitergehen.“

Eine Frau, in ausgeleierter Trainingshose, Kittelschürze und Filzschuhen betritt den Raum. Sie ist die Schwiegermutter der Ladenbesitzerin. „Gewinn wirft der Laden nicht ab. Die Einnahmen gehen für Strom, den Warentransport und die Angestellte drauf“, sagt sie. „Aber meine Schwiegertochter muß das machen, wegen der Rentenversicherung.“ Früher sei alles anders gewesen. Da seien auch viele Serben nach Dragoman gefahren, um einzukaufen. Mit dem Handelsembargo blieben die Kunden von jenseits der Grenze aus. Bis jetzt, trotz Aufhebung der Sanktionen gegen Restjugoslawien. „Unser Leben ist eine Katastrophe“, sagt die Frau. „Deshalb haben die Menschen in Sofia recht, wenn sie demonstrieren. Sie müssen so lange weitermachen, bis die Sozialisten nachgeben. Und diejenigen, die uns das angetan haben, gehören vor ein Gericht.“

Gegenüber dem Laden, auf der anderen Straßenseite, wachsen graue Wohnblocks in den Himmel. Über den sandigen Vorplatz führen zerbrochene Steinplatten zu den Eingängen. Die Scheiben einiger Türen haben Sprünge, im Flur baumeln traurig Briefkästen, denen nicht selten die vordere Klappe fehlt. „Tomow“ steht an der Tür im zweiten Stock. Ein weißhaariger Mann öffnet die Tür und bittet gleich ins Wohnzimmer. In dem Raum, dem einzigen in der Dreizimmerwohnung, der beheizt ist, stehen zwei Holzbetten, die mit billigem Plüsch bezogen sind, davor ein Sperrholztisch mit Glasplatte. Der Platz in der Ecke gehört einem Kohleofen.

Pawel Tomow stellt kleine Glasteller mit Kirschkompott auf den Tisch. „Mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten“, sagt er und zuckt die Schultern. Der 68jährige hat bei seinem Vater den Friseurberuf gelernt und danach eine Fachschule für Finanzwesen besucht. Bis zu seiner Rente vor acht Jahren hat er in einem Betrieb als Verwalter von Lagerflächen gearbeitet. Nun ist er wieder zu seinem ersten Beruf zurückgekehrt, um seine Rente, 8.000 Lewa, aufzubessern. Für 100 Lewa (20 Pfennig) schneidet er Leuten aus Dragoman die Haare, Nachbarn werden umsonst bedient.

Doch Rente samt Nebenverdienst reichen kaum zum Leben. „Jetzt kaufe ich nur Brot und Käse“, sagt er und steht auf. Im Nebenzimmer, in dem sich dem Temperatur dem Gefrierpunkt nähert, hängt getrocknete Paprika an einem Schrank. Tomow öffnet die Tür. Zum Vorschein kommen Gläser mit eingelegten Paprika, Gurken, Kohl, Karotten und Weintraubenblättern. Die Arbeit eines ganzen Sommers, um die kalten Monate zu überstehen. „Mit Bulgarien ist es wie mit einem kranken Organismus. Wenn man den heilen will, muß man die kranken Glieder abschneiden. Die Kommunisten müssen weg. Aber mit friedlichen Mitteln.“ Er füllt noch einmal die Glasteller nach. „Wir sterben“, sagt er, „aber immer mit Optimismus.“ Da klingelt es an der Tür: die nächsten Kunden.