■ Schlagloch
: Mangel an protokollarischer Eleganz Von Götz Aly

„Die Erstmaligkeit dieses Gedenktages wird der Schule die Möglichkeit vielfältiger Anknüpfungspunkte geben.“

Rundschreiben des Landesschulamts Berlin Nr. 6/1969, Betr.: 27. Januar

Für die Generation unserer Urgroßeltern war das Datum Kaisers Geburtstag, unsere Väter und Großväter haben es zu dem Tag gemacht, an dem ihnen die Rote Armee das Herrenmenschen- Handwerk legte und Auschwitz befreite. Bei den Kämpfen um das Lager fielen 231 sowjetische Soldaten. Erst gegen 14 Uhr erreichten zwei vermummte Gestalten, die ihr Maschinengewehr auf einem Schlitten zogen, das Tor von Birkenau. Ein Freudenschrei: „Die Russen sind da!“

Ihr schneller Vorstoß rettete etwa 7.000 Häftlingen das Leben. Die SS-Truppen hatten das letzte Krematorium erst in der Nacht zuvor gesprengt. Die beiden anderen hatten sie schon im Dezember sorgfältig abgebaut, zerlegt und zur beabsichtigten Weiterverwendung zusammengepackt. Das Vernichtungslager Auschwitz hatte viereinhalb Jahre bestanden. Mehr als eine Million Menschen, weit überwiegend Juden aus fast allen Ländern Europas, sind dort ermordet worden.

Roman Herzog hat den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Die erste einschlägige „Sonderveranstaltung“ des Deutschen Bundestages verlief schräg. Eher hektisch gedachten die Abgeordneten acht Tage im voraus (Terminschwierigkeiten des Präsidenten, Wochenende etc.). Das war aber auch nicht ganz unsympathisch. Warum sollten die Repräsentanten des Staates, der die perfektesten Völkermörder der Geschichte hervorbrachte, auch noch die formvollendetsten Erinnerer, Trauerarbeiter und Konsequenzenzieher sein? Wer in Deutschland über Auschwitz reden will, sollte den Mangel an protokollarischer Eleganz nicht scheuen.

Im Jahr 1945 fanden die sowjetischen Infantristen Pläne, die zeigten, daß der Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau erst ein Drittel der vorgesehenen Größe erreicht hatte. Der Stadtbaumeister der „deutschen Stadt Auschwitz“, Hans Stosberg (später der hochgeehrte Schöpfer des modernen Hannover), rechnete 1943 damit, das Lager werde noch mindestens zehn bis zwanzig Jahre „Bestandteil der Region“ bleiben. Und als Josef Mengele 1944 gefragt wurde: „Wann hört all diese Vernichtung einmal auf?“ antwortete er: „Es geht immer weiter, immer weiter!“

Der Naturwissenschaftler Mengele stand gelegentlich an der Selektionsrampe in Birkenau. Meistens aber ging er seinen genetisch orientierten Zwillingsforschungen nach. Sie wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bezahlt („Kennwort: Zwillingslager“) und geschahen im Auftrag der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, deren zunächst kaum veränderte Rechtsnachfolgerin sich dann in Max-Planck-Gesellschaft umbenannte.

Das Giftgas „Zyklon B“ pflegte die Lagerverwaltung aus Sparsamkeit per Postkarte in Dessau zu bestellen. Die Fahrplanexperten der Deutschen Reichsbahn organisierten die Sonderzüge auf ihren Routinekonferenzen. Die Fahrkarten für die Opfer wurden beim nächstgelegenen Reisebüro bestellt. Die Wohnungen und Habseligkeiten der Ermordeten verteilten die Deportateure in aller Regel an die verbliebenen Einheimischen.

Als das Benzin für den Fuhrpark in Auschwitz knapp wurde, gingen deutsche Ingenieure daran, eine Biogasanlage zu konstruieren, die aus den Exkrementen der Gefangenen SS-eigenen Treibstoff gewinnen sollte.

Nach Auschwitz ist nichts mehr so, wie es vorher war. Roman Herzog besteht darauf, die Erinnerung wachzuhalten. Aber er kennt die praktische Politik und seine eigenen Grenzen, daher formulierte er seine Proklamation offen: „Ich verbinde damit die Hoffnung, wir möchten gemeinsam Formen des Erinnerns finden ...“ Der Ton liegt auf „finden“, das heißt zunächst einmal – suchen.

Von seinem Vorgänger Richard von Weizsäcker unterscheidet sich der derzeitige Präsident insbesondere im dezidierten Gebrauch der Ersten Person. Strikt beachtet Herzog die Differenz von „Ich“ und „Wir“. Er spricht nicht als Institution und gibt die Verantwortung so an die Bürger zurück. Es liegt an jedem einzelnen, wie der Gedenktag in Zukunft begangen wird, welche Traditionen sich künftig entwickeln.

Doch so sehr Herzog den eigenen Stil pflegt, so sehr baut er auch auf der Arbeit seines Vorgängers auf: Dessen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hatte 1985 die schon lange anhaltende, aber bis dahin eher minoritäre Auseinanderandersetzung um das Erinnern an die Opfer Hitlerdeutschlands in den Rang einer Selbstverständlichkeit erhoben. Gleichzeitig hielt der Streit weiter an: Kohl hatte kurz zuvor – trotz aller Proteste – zusammen mit Ronald Reagan den deutschen Soldatenfriedhof Bitburg besucht, und mit Ausnahme von Otto Schily war die Fraktion der Grünen damals der Weizsäcker-Rede ferngeblieben. Die renitenten Abgeordneten lehnten die Teilnahme mit der Begründung ab, daß „zugleich die Waffenbrüderschaft mit dem amerikanischen Nato-Partner gefeiert werden solle“ und fuhren statt dessen demonstrativ nach Auschwitz.

Der jetzige Bundespräsident zog daraus die Konsequenz: Auschwitz kann nicht länger als Mittel politischer Rechthaberei mißbraucht werden. Die Erinnerung gehört von nun an zum Konsens der zweiten deutschen Republik, zum noch ungeschriebenen Teil der Präambel des Grundgesetzes. Sie „muß auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“.

Noch ist offen, ob an diesem Tag die Bundesfahne auf Halbmast gesetzt wird, ob um 14 Uhr die Kirchenglocken läuten, ob die Intendanten der ARD noch schnell das Programm ändern und sich entschließen werden, den Dokumentarfilm über die Befreiung des Lagers im Anschluß an die 20-Uhr- Nachrichten zu zeigen.

So unbeholfen, vielleicht sogar peinlich die ersten Versuche ausfallen mögen, so schwer bleiben die Alternativen. Auschwitz verschlägt denjenigen, die sich dem Thema annähern, bis heute die Sprache. Es gibt keine Möglichkeit, das viel zu komplexe Ganze in einem Begriff, in wenigen Worten zu fassen. Jeder, der sich anschickt, darüber zu sprechen, wird aber versuchen, an den einzelnen gequälten Menschen zu erinnern und versuchen, die Erfahrung der Überlebenden weiterzugeben:

„Als im Sommer 1944“, so berichtete die Polin Katarzyna Laniewska, „verstärkt Transporte ankamen und immer mehr Unglückliche verbrannt wurden, als ich die brennenden ,Gräben‘, in die die Kinder geworfen wurden, und die flammenden Schornsteine sah, konnte ich fast zwei Monate überhaupt nicht schlafen. Abends schlief ich zwar ein, aber sofort sah ich im Traum menschliche Schädel in den Flammen, der Rauch drang aus den Augenhöhlen und zwischen den Kiefern hervor; ich schreckte schweißgebadet auf, schlief wieder ein, schreckte wieder auf; immer wieder erschien dieser Schädel. Seit dieser Zeit verfolgt mich der Geruch verbrannten Menschenfleischs.“